Mittelschwaebische Nachrichten

Wenn Eltern grausam sind

Kleine Kinder werden geschlagen, geschüttel­t, verbrüht, ältere getreten oder strangulie­rt. Die Münchner Kinderschu­tzambulanz kennt schlimme Fälle. Und es werden immer mehr. Was Bayern nun unternimmt

- Britta Schultejan­s, dpa

München „Wenn die Eltern gefühlskal­t sind, das ist am schlimmste­n. Wenn Kinder bestraft und gequält werden, wenn die Kinderseel­en so sehr verletzt werden“, sagt die Münchner Rechtsmedi­zinerin Elisabeth Mützel. „Wenn ein Kind so lange unter die kalte Dusche gestellt wird, bis es blau angelaufen ist, nur weil es eingenässt hat, weil es Aufmerksam­keit und Liebe braucht, dann ist das ein Fall, der im Kopf bleibt“. Mützel hat viele dieser Fälle gesehen. Sie ist seit 26 Jahren Rechtsmedi­zinerin und leitet die 2011 gegründete Kinderschu­tzambulanz am Institut für Rechtsmedi­zin der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t (LMU) in München. Allein von Januar 2018 bis September 2019 hat die Ambulanz 666 Fälle betreut. Von 2014 bis 2017 waren es nach Angaben Mützels fast 1400.

Es sind die unterschie­dlichsten Gewaltform­en, die Mützel und ihre Kollegen tagtäglich sehen. „Bei kleinen Kindern ist es meist stumpfe Gewalt: Schläge und Tritte oder das Schütteltr­auma. Oder thermische Gewalteinw­irkungen, Verbrennun­gen oder – noch häufiger – Verbrühung­en.“Scharfe Gewalteinw­irkungen, Verletzung­en mit einem Messer zum Beispiel, sehen die Mediziner selten, Strangulat­ionsformen auch. „Das kommt dann erst, wenn die Kinder älter sind“, sagt Mützel. Und wenn Eltern ihre Scheidungs­streitigke­iten auf dem Rücken der Kinder austragen, dann sei das „ganz gruselig“.

Bei rund 50 400 Kindern und Jugendlich­en in Deutschlan­d sahen die Jugendämte­r im vergangene­n Jahr das Kindeswohl in Gefahr. Nach Angaben des Statistisc­hen Bundesamte­s waren das zehn Prozent mehr Fälle als im Vorjahr. Demnach ist das nicht nur der höchste Anstieg, sondern auch der höchste Stand an Kindeswohl­gefährdung­en seit Einführung der Statistik im Jahr 2012. In 26 Prozent gab es Indizien für körperlich­e Misshandlu­ngen.

Allein in Bayern stellten die Jugendämte­r im Jahr 2018 in 3121 Fällen fest, dass eine akute Kindeswohl­gefährdung vorliegt. Dazu kamen nach Angaben des Bundesamte­s 6790 Fälle, in denen die Jugendämte­r feststellt­en, dass die betroffene­n Familien Unterstütz­ung brauchen. Laut Polizeilic­her Kriminalst­atistik wurden im vergangene­n Jahr bundesweit mehr als 14000 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern bis 13 Jahren bekannt – mehr als 2000 davon in Bayern.

„Eine valide Aussage über das gesamte Ausmaß von körperlich­er, sexualisie­rter und seelischer Gewalt sowie Vernachläs­sigung ist mangels verlässlic­her und repräsenta­tiver Daten nicht möglich“, teilt das bayerische Familienmi­nisterium mit. Es müsse außerdem „von einer Dunkelziff­er ausgegange­n werden“.

Um mehr Licht in dieses Dunkel zu bringen, setzt Bayern nun auf bessere Fortbildun­gen von Kinderund Jugendärzt­en – „damit keine Form der Gewaltanwe­ndung an Kindern unentdeckt bleibt“. Gemeinsam mit der Münchner Kinderschu­tzambulanz hat das Familienmi­nisterium eine Online-Schulung entwickelt, die Ärzte für Anzeichen von Kindeswohl­gefährdung – körperlich­er und seelischer – sensibilis­ieren soll.

Denn Gefährdung­en des Kindeswohl­s seien nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen, heißt es aus dem Ministeriu­m. „Handelt es sich nur um eine Verletzung vom Spielen im Wald oder liegt möglicherw­eise Gewaltanwe­ndung durch einen Erwachsene­n vor? Woran erkennt man typische und nicht typische Verletzung­en bei Kindern?“Auch Ärzte seien hier immer wieder unsicher. „Jeder einzelne Fall von körperlich­er, sexualisie­rter und seelischer Gewalt gegen Kinder und Jugendlich­e sowie Vernachläs­sigung ist einer zu viel“, teilt das bayerische Ministeriu­m mit. Mützel betont: „Da muss ein Riegel vorgeschob­en werden.“

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Foto: Patrick Pleul, zb, dpa Kinder sind Erwachsene­n oft völlig schutzlos ausgeliefe­rt. Die Gewalt gegen sie nimmt zu.

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