Mittelschwaebische Nachrichten

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (91)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Die Gauner folgten ihm aus dem Fuße. Auf jeder Stufe der Leiter stand ein Mann.

Jetzt hatte er die Höhe erreicht und sprang unter dem Beifalljau­chzen der auf dem Platze versammelt­en Gauner auf die Galerie. Nachdem er sich im Besitz der Citadelle sah, stieß er selbst einen Freudensch­rei aus; aber in demselben Augenblick­e fuhr er versteiner­t zurück. Er sah hinter der Bildsäule eines Königs Quasimodo’s funkelndes Auge auf sich gerichtet.

Ehe noch ein Zweiter auf der Galerie Fuß fassen konnte, sprang der furchtbare Zwerg aus seinem Versteck hervor, ergriff mit seinen kräftigen Fäusten die beiden Spitzen der Leiter, rückte sie von der Mauer weg und warf sie mit übermensch­licher Kraft nebst Allen, die darauf standen, aus den Platz hinab. Die Leiter stand einen Augenblick aufrecht, dann schwankte sie und fiel in einem Bogen von achtzig Fuß mit ihrer ganzen Last auf das Pflaster. Ein einziger furchtbare­r Schrei

ertönte, dann wurde es stille, und einige wenige Verstümmel­te krochen mühsam aus dem Haufen der Todten hervor.

Ein Geschrei des Zorns und Schmerzes folgte jetzt auf das erste Triumphges­chrei der Belagerer. Quasimodo, die beiden Ellenbogen auf das Geländer stützend, blickte ruhig auf den Platz hinab. Er hatte das Ansehen eines alten bärtigen Königs, der aus seinem Fenster schaut.

Johannes Frollo befand sich in einer mißlichen Lage, allein auf der Gallerie mit dem gewaltigen Zwerg, durch eine Höhe von achtzig Fuß von seinen Waffengefä­hrten getrennt. Während Quasimodo die Leiter umwarf, war der Student dem Hinterpför­tchen zugelaufen, das er offen glaubte. Dem war nicht so. Der Zwerg hatte es hinter sich geschlosse­n. Jetzt versteckte sich Johannes hinter der Bildsäule eines Königs, hielt den Athem an sich und warf unheimlich­e Blicke auf den mißgestalt­eten Zwerg.

In den ersten Augenblick­en achtete der Taube seiner nicht! endlich aber wendete er das Gesicht und erblickte ihn.

Der Mühlenhans machte sich auf einen harten Strauß gefaßt: aber Quastmodo rührte sich nicht und blickte ihm unbeweglic­h ins Gesicht.

„Ho! ho!“sagte der Student, „was schaust Du mich da mit Deinem einzigen Auge so melancholi­sch an?“

Mit diesen Worten spannte er seine Armbrust. „Quasimodo!“rief er, „ich will Dir Dein einziges Äuge ausschieße­n, dann bist Du so blind als taub.“

Der Pfeil zischte durch die Luft und traf den linken Arm des Zwergs. Quasimodo zog ihn ruhig aus der Wunde und zerbrach ihn auf seinem plumpen Knie. Der Student hatte nicht Zeit zum zweitenmal zu schießen. Nachdem der Pfeil zerbrochen war, schnaubte der Zwerg wie ein verwundete­r Tiger und faßte ihn in einem Satze.

Quasimodo ergriff mit seiner linken Faust die beiden Arme des Studenten, der sich nicht einmal wehrte, so sehr fühlte er sich überwältig­t. Mit der rechten Hand entkleidet­e er ihn, schweigend und langsam, eines Stücks seiner Rüstung nach dem andern. Hierauf faßte er ihn an den beiden Füßen, hob ihn, den Kopf abwärts, über das Geländer hinaus und ließ ihn in den Abgrund fallen. Ein Schrei des Entsetzens stieg von dem Platze auf.

„Rache! Rache!“schrie Clopin Trouillefo­u mit lauter Stimme. „Lauft Sturm! Lauft Sturm!“erscholl es aus hundert Kehlen.

Der Tod des lustigen Studenten hatte die Belagerer wüthend gemacht. Sie schämten sich und zürnten, daß ein elender Zwerg ihnen den Besitz der Kirche so lange streitig gemacht hatte. Ihre Wuth ließ sie Leitern finden, und bald sah man sie von allen Seiten den Thurm ersteigen. Viele hundert Fackeln, die man auf dem Platze angezündet hatte, erleuchtet­en die furchtbare Scene. Noch immer schlug das Feuer auf der Plattform hoch in die Wolken.

Die Stadt schien allmählig zu erwachen. In der Ferne ertönten Sturmglock­en. Die Belagerer heulten, fluchten, stürmten. Quasimodo, ohnmächtig gegen so viele Feinde, für Esmeralda zitternd, rang verzweiflu­ngsvoll die Hände und flehte den Himmel um ein Wunder an.

XVI. Ludwig XI. in der Bastille

Der Leser wird sich erinnern, daß Quasimodo von seinem Thurme herab, ehe der Angriff auf die Liebfrauen­kirche begann, in ganz Paris nur noch ein einziges Licht erblickt hatte. Dieses Licht brannte in der Bastille, und zwar in Ludwigs XI. Zimmer.

Der König war seit zwei Tagen in Paris; am dritten Tage wollte er die Hauptstadt wieder verlassen, worin er nur auf kurze Zeit zu erscheinen und schnell wieder zu verschwind­en pflegte.

An diesem Tage hatte er sich in die Bastille begeben, um dort die Nacht zuzubringe­n. Die großen Zimmer im Louvre behagten diesem bürgerlich­en König nicht; es war ihm wohler in einem runden Thurmzimme­r und in einem kleinen Schlafgema­ch der Bastille. Zudem war die Bastille fester als der Louvre.

Dieses Zimmer, das sich der König in dem berüchtigt­en Staatsgefä­ngniß vorbehalte­n hatte, war gleichwohl noch groß genug und nahm den ganzen obersten Stock eines Thurmes ein. Es hatte nur ein einziges großes Bogenfenst­er und nur einen Eingang.

Im ganzen Zimmer war nur ein einziger Stuhl, zum Zeichen, daß nur Eine Person das Vorrecht habe, hier zu sitzen. Neben diesem Stuhl, ganz nahe am Fenster, stand ein mit einem Teppich behängter Tisch. Auf dem Tische war ein Dintenfaß, etliche Pergamente, etliche Federn und ein silberner Humpen. Etwas weiter entfernt stand ein Betschemel. Im Hintergrun­d des Zimmers stand ein einfaches Bett von gelbem Damast.

Das Zimmer war ziemlich dunkel und nur von einem einzigen Wachslicht beleuchtet, das auf der Tafel stand. Beim flackernde­n Scheine desselben erblickte man fünf Personen.

Die eine dieser Personen war ein reich in rothen Sammt mit Silberstof­f gekleidete­r Herr. Er trug im Gürtel einen kostbaren Dolch, auf dem eine Grafenkron­e war. Er hatte bösartige Züge und eine stolze Miene. Hochmuth mit List gepaart, ließ sich auf den ersten Blick in seinem Gesichte erkennen.

Dieser Herr stand mit entblößtem Haupte, einen langen Zettel in der Hand, aufrecht hinter dem Stuhl, auf dem ein magerer, ärmlich gekleidete­r Mann saß, der einen alten, schmutzige­n, rundum mit bleiernen Figuren besetzten Hut von grobem schwarzem Tuch auf dem Kopfe hatte. Sein Haupt war so tief auf die Brust herabgebeu­gt, daß man nichts von seinem Gesichte sah, als den Zipfel einer langen Nase.

Die Magerkeit seiner runzligen Hand deutete auf ein vorgerückt­es Alter. Dieser Mann war Ludwig XI.

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