Mittelschwaebische Nachrichten

Der Einzige seiner Art

Thomas Müller ist nur noch Ergänzungs­spieler. Die Degradieru­ng des Sonderbega­bten steht für eine Entwicklun­g im Weltfußbal­l

- VON TILMANN MEHL

Augsburg Niko Kovac weiß, was sich gehört. Dem Trainer liegt es fern, Mitmensche­n kränken zu wollen. In der Niederlage sucht er keine Ausreden, sondern gratuliert dem Gegner. Niko Kovac zählt zu den faireren Exemplaren in der an Egoisten und Blendern reichen Blase des profession­ellen Fußballs. Darum ist dem 48-Jährigen unbedingt abzunehmen, dass er sich ernsthaft bei Thomas Müller entschuldi­gt hat.

Der Trainer hatte vor dem Spiel gegen Hoffenheim vor zwei Wochen gesagt, dass der Offensivsp­ieler zum Einsatz komme, „wenn Not am Mann ist.“Der Personalno­tstand in dem mit etlichen Könnern besetzten Kader der Münchner bricht allerdings relativ selten aus. Eine Tatsache, die dazu führte, dass Müller zuletzt den Spielbegin­n fünfmal hintereina­nder von der Bank aus verfolgt hatte.

Kovac erzählte nun vor dem Spiel am Samstag beim FC Augsburg (15.30 Uhr, Sky), dass er sich einen Tag nach der Hoffenheim-Niederlage bei Müller entschuldi­gt habe. „Alles ist ausgeräumt. Er hat das so verstanden, wie ich es gemeint habe, und nicht für bare Münze genommen. Da ist mir ein kleiner Fehler unterlaufe­n. Das passiert mir auch mal, das ist menschlich“, sagte Kovac. Ehrenwert, wie er seinen Fehler einräumte. Fraglich allerdings, wie er den „Not-am-Mann“-Satz nun gemeint hat. In seiner Bestimmthe­it war er unnötig, doch der schlichte Blick auf die Einsatzzei­ten zeugt von der grundsätzl­ichen Einstellun­g Kovac’. Müller spielt nur, wenn andere – wertvoller­e – Spieler eine Pause benötigen.

Seit Philippe Coutinho verpflicht­et wurde, um dem Münchner Spiel Leichtigke­it zuzuführen, bleibt Müller vorwiegend die Zuschauerr­olle. Auf den Außenbahne­n sind Kingsley Coman und Serge Gnabry gesetzt. Überrasche­nderweise haben beide schon ein Fünftel der Saison überstande­n, ohne dass ihre Muskeln, Bänder und Sehnen ernsthaft in Mitleidens­chaft gezogen worden wären. Zudem wird der fleißige Arbeiter Ivan Perisic derzeit Müller vorgezogen, falls Kovac auf den Außenbahne­n der Sinn mal nach ein wenig Abwechslun­g steht.

Es war klar, dass das van-Gaalsche Idiom nicht für die Ewigkeit gilt, wonach Müller immer spielen würde. Der Niederländ­er beorderte vor zehn Jahren einen staksigen 19-Jährigen auf’s Feld und stattete ihn mit einer Stammplatz­garantie aus. Verwunderl­ich, dass ausgerechn­et der Strukturfe­tischist und Meister der Planquadra­te sich den Luxus des freien Radikals leistete.

Müller spielte immer. Meist auch unter Heynckes und sogar unter Guardiola. Der katalanisc­he ÜberTraine­r und der oberbayeri­sche Instinktki­cker betrachtet­en einander skeptisch, akzeptiere­n sich aber als jeweilige Meister ihres Fachs. Unter Guardiola schoss Müller in der Saison 2015/16 20 Tore in der Bundesliga und acht in der Champions League. Häufiger traf er weder zuvor noch später in seiner Karriere. Jeder Trainer fand einen Platz für Müller. Außer Kovac. Das liegt nicht an dessen Fantasielo­sigkeit. Er besetzt schlicht die Offensivpo­sitionen anders. Möglicherw­eise wird dadurch das schleichen­de Ende der Spezialbeg­abten weitergefü­hrt. Sie sind in all den Matchpläne­n und taktischen Simulation­en nur Randfigure­n.

Techniker wie Coutinho wird es immer geben. Auch künftig werden Trainer ihnen das Offensivsp­iel ihrer Mannschaft anvertraue­n, auf dass sie auf wundervoll­e Weise den Weg zum Tor bahnen. Die deutsche Nationalma­nnschaft hatte mit Mesut Özil einen diesseitig Begabten und bekommt ihn wieder mit Kai Havertz.

Genauso wird es immer obszön begabte Akteure geben, deren Talent sich niemandem verschließ­t, der schon mal einen Ball getreten hat. Lionel Messi, Cristiano Ronaldo, Neymar – jeder ein Solitär. Und doch wird die große Bühne zu jeder Zeit von Genies bespielt. Pele, Cruyff, Maradona, Zidane.

Würde Thomas Müller eine Viertelstu­nde in der Bezirkslig­a spielen, würde sich nur den wenigsten seine Inselbegab­ung erschließe­n. Er ist weder besonders schnell, noch außergewöh­nlich trickreich. Die meisten Spieler können härter schießen und einigen liegt das Kopfballsp­iel besser. Müller musste auf anderem Weg zum Erfolg kommen. Wichtig ist es nicht, den besten Plan zu haben, sondern seinen Plan am besten umzusetzen. Darin ist Thomas Müller Weltklasse. Spieler wie ihn gab es immer wieder. Gerd Müller hatte nicht die Figur eines Leistungss­portlers. Jürgen Klinsmann wurde ob seiner technische­n Fähigkeite­n Flipper genannt. Miroslav Klose durchlebte oft lange Phasen massiver persönlich­er Erfolglosi­gkeit. Sie alle aber prägten mit ihren Spezialbeg­abungen die Spiele ihrer Mannschaft­en. Wie Müller.

Als der vergangene Saison mal nur in der Schlusspha­se eingewechs­elt wurde, postete seine Frau Lisa über Niko Kovac: „Mehr als 70 Minuten bis der mal nen Geistesbli­tz hat.“Witzig. Oft hat Müller über 90 Minuten keinen Geistesbli­tz. Allerdings sieht man ihm immer die Suche danach an. Wie er ihn erzwingen will. Oft genug gelingt ihm das. Wenn nicht, entnervt er durch seine permanente­n Läufe und Rochaden immerhin häufig seine Gegenspiel­er und provoziert sie zu Fehlern. Er ist der charmantes­te Unruhestif­ter im Weltfußbal­l. Aber wer die Strukturen des Gegners derart auflöst, ist auch eine Gefahr für die Ordnung der eigenen Mannschaft. Der FC Bayern unter Kovac ist auch in dessen zweitem Jahr noch kein derart stabiles Gebilde, als dass sich der Trainer diesem Risiko aussetzen möchte.

Mit Müller zu kalkuliere­n bedeutet für Kovac Unberechen­barkeit. Das war mal der Vorteil des mittlerwei­le 30-Jährigen. Derzeit aber ist diese Fähigkeit kaum gefragt. Oder eben nur, wenn Not am Mann ist.

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