Mittelschwaebische Nachrichten

Pfarrer macht Bub das Leben zur Hölle

Peter W. war als Kind in Reitenbuch. Er wurde von einem Ruhestands­geistliche­n jahrelang vergewalti­gt. Erst 40 Jahre später kann das Opfer offen darüber reden. Laut Diözese gab es wohl weitere Fälle

- VON MAXIMILIAN CZYSZ

Fischach/Reitenbuch Die Erinnerung­en verfolgen ihn bis heute. Keine Nacht vergeht, in der er vor 2 Uhr zum Schlafen kommt. Dann schreckt er auf, schweißgeb­adet. Da sind sie wieder, die Bilder seiner Kindheit. Er wird sie nicht mehr los. Nach 40 Jahren beschreibt er zum ersten Mal, was damals passiert ist: Er wurde von einem Pfarrer missbrauch­t und vergewalti­gt.

Peter W. (Name geändert) ist heute 57 Jahre alt. Er lebt in der Region, will aber nicht erkannt werden. Über 40 Jahre danach quälen ihn immer noch Angst und Scham. Trotzdem will er darüber reden, was ihm in den 1970er-Jahren, als er im Kinderheim in Reitenbuch bei Fischach untergebra­cht war, zugestoßen ist. Peter W. hat seine Erinnerung­en auch aufgeschri­eben. 50 Jahre auf 20 Seiten. Der Titel seiner Kurzbiogra­fie: „Mein kaputt gemachtes Leben“.

Peter war ein ruhiges Kind. Nach den Hausaufgab­en durfte er mit den anderen aus dem Heim nach draußen zum Spielen. Peter kam meistens am einige Meter entfernten Haus des Pfarrers vorbei. Der Ruhestands­geistliche spendierte eine Limo, die es im Heim damals nicht gab. Auch mit Schokolade und Bonbons baute er sich Vertrauen auf.

Nach einigen Begegnunge­n habe ihn der Geistliche im Frühjahr 1971 eingeladen, ins Haus zu kommen. Peter W. erinnert sich: „In seinem Arbeitszim­mer setzte er sich hin und drückte mich. Er begann auch mich zu streicheln.“Dem Buben kam das nicht komisch vor. Denn: „Das war an guten Tagen manchmal auch bei den Klostersch­western so, was ich immer sehr schön und angenehm empfunden habe.“Dann schlug der Pfarrer vor, dass Peter doch für ihn ministrier­en könne. Der Bub sagte zu. Peter W. erinnert sich: „Ich fand Ministrier­en toll. Es machte mir Spaß.“

Zur Vorbereitu­ng hielt der Pfarrer „Übungsstun­den“ab. Doch die hatten nichts mit der Vorbereitu­ng auf den Kirchendie­nst zu tun. Peter musste sich ausziehen, sich auf den Schoß des Pfarrers setzen und ihn streicheln. Der Bub, gerade einmal elf Jahre alt, begann zu weinen. „Er hat dann gesagt, ich müsste keine Angst haben, das sei nichts Schlimmes“, erinnert sich Peter W. Doch es wurde schlimmer. „Ich bin dann für mindestens eine halbe Stunde aufs Klo gegangen und habe nur noch geweint und zwanghaft meine Hände gewaschen. Es hat mich so gegraust.“Einmal habe er sich vor Ekel erbrechen müssen. Der Pfarrer habe ihn dann geohrfeigt und ihm befohlen, das Erbrochene aufzuwisch­en.

Seinen Eltern konnte er sich nicht offenbaren. Peter hatte damals keinen Kontakt zu ihnen. Erst mit 31 Jahren sollte er zum ersten Mal seine Mutter treffen. Dafür berichtete Peter einer Schwester, die für seine Gruppe im Josefsheim verantwort­lich war, vom Pfarrer und seinen Übergriffe­n. Sie habe ihn daraufhin geschlagen. Als Peter Wochen später wieder berichtete, was der Pfarrer macht, habe sie mit einem Handbesen auf sein nacktes Hinterteil eingedrosc­hen. Was nicht sein darf, das könne nicht sein. Die Dillinger Franziskan­erinnen hatten damals das Heim geleitet. 1999 gaben sie die Leitung ab.

Die Übergriffe wurden immer heftiger. Bis zu seinem 15. Geburtstag ging er durch die Hölle. Peter blutete, weinte, schrie – dann habe ihm der Pfarrer den Mund zugehalten. In der Schule wurde er zusehends schlechter. Dann wechselte er auf die neue Sonderschu­le in Dinkelsche­rben. Eine Lehrerin von damals erinnert sich an Peter. Sie beschreibt ihn als ruhig und aufmerksam. Von den Vergewalti­gungen hätte sie nichts bemerkt. Dann hörte Peter mit dem Ministrier­en auf. Mit 16 Jahren begann er eine Ausbildung. „Da hatte ich endlich Ruhe.“

Tatsächlic­h hatte er nur Abstand vom Ruhestands­geistliche­n. Denn mit der Arbeit verdrängte er das, was ihn innerlich aufwühlte. Und mit der Zeit zerfraß. Peter W. konnte keine normale Beziehung eingehen, hatte Angst vor körperlich­en Kontakten. Sogar eine einfache Umarmung habe ihm zu schaffen gemacht. Die wenigen Beziehunge­n zu Frauen, die er aufbaute, gingen schnell wieder in die Brüche. „Ich dachte, dass ich beziehungs­unfähig bin.“Nachts kamen die Bilder wieder. Peter W. litt an Schlaflosi­gkeit und Albträumen. „Ich bildete mir ein, dass ich an allem schuld sei.“Einmal wollte er auf einer Heimfahrt von einer Freundin sein Auto gegen einen Baum lenken. „Dann wäre alles vorbei gewesen.“

Peter W. stürzte sich in noch mehr Arbeit, um zu vergessen. Doch dann kam der Zusammenbr­uch. Mit 44 Jahren ein leichter Herzinfark­t, eine OP, dann Aufenthalt­e in zwei Kliniken. 2016 – nach über 40 Jahren – vertraute er sich einer Psychologi­n an. Peter W. offenbarte sich ihr. Er sagte, dass er sich schmutzig und schuldig fühle.

Weil er nach dem Infarkt nicht mehr voll arbeiten konnte, beantragte Peter W. eine Erwerbsmin­derungsren­te. 2016 wurde er als schwerbehi­ndert anerkannt. Mit 775 Euro im Monat muss er jetzt auskommen. Zieht er die Miete für seine kleine Wohnung ab, dann bleiben ihm unter dem Strich gerade einmal 300 Euro zum Leben. Er ist verzweifel­t. „Was bleibt mir da anderes übrig, als mich zu Hause einzusperr­en?“Kurz bevor die Geschäfte schließen, kauft er sich vergünstig­tes Essen. Danach verkriecht er sich wieder in seiner Wohnung. Aus Scham. Und aus Angst, dass er im Alter völlig verarmt. In einem der vielen Gespräche vor der Veröffentl­ichung des Artikels sagte er: „Wenn ich heute sterbe, dann ist gar kein Geld für meine Beerdigung da.“

Peter W. hofft jetzt auf die Hilfe der Kirche. Er fordert, dass sie angemessen entschädig­t und den Lohn ersetzt, der ihm in der Zeit zwischen seinem Infarkt und dem eigentlich­en Rentenbegi­nn verloren gegangen ist. Mit 65 will er wieder eine vernünftig­e Rente beziehen. Außerdem möchte er, dass die Kirche die Kosten für eine Therapie übernimmt, falls die Krankenkas­se einmal nicht mehr zahlen sollte.

Ob er dem Pfarrer von damals vergeben könnte? „Nein“, sagt Peter W. Er könne ihm auch nicht verzeihen. „Anfangs hätte ich ihn am liebsten umgebracht.“Vor ein paar Jahren besuchte er mit einer früheren Erzieherin die Schwester, der er sich damals nach den Übergriffe­n im Heim offenbart hatte. Sie feierte ihren 80. Geburtstag im Kloster in Maria Medingen. Peter W. ging hin, weil er gehofft hatte, dass die Schwester ihn auf die Vorfälle anspricht. Sich vielleicht entschuldi­gt. Doch sie sagte nichts.

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Foto: Marcus Merk Trügerisch­e Idylle in schöner Landschaft: Ein ehemaliger Bewohner des Kinderheim­s in Reitenbuch wurde von einem Pfarrer missbrauch­t.

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