Mittelschwaebische Nachrichten

Die erste Disco der Welt?

Es ist mindestens eine schöne Geschichte, die da in Aachen vor 60 Jahren ihren Anfang nahm

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Kaum zu glauben, aber die legendäre Disco-Ära wurde nicht in New York oder London, sondern in Deutschlan­d eingeläute­t. Der Boom kam erst in den Siebzigern, doch bereits vor 60 Jahren, am 19. Oktober 1959, eröffnete in Aachen: „die erste Diskothek der Welt“. So jedenfalls heißt es dort. Und auch wenn die Trennung zu Vorgängern mit „Clubs“in Paris und London gar nicht so leicht zu ziehen sind, auch wenn da kurz zuvor der „Ocambo Club“in Osnabrück schon für sich warb – die Geschichte aus Aachen ist einfach zu schön, um sie nicht zu erzählen.

Herbst 1959 also: Der österreich­ische Kaufmann Franzkarl Schwending­er gestaltet sein bislang wenig erfolgreic­hes Speiseloka­l in die moderne „Jockey Tanz Bar“um. Doch für Live-Bands fehlt schlicht das Geld. Um das Geschäft anzukurbel­n, engagiert er zur Eröffnung einen Kölner Opernsänge­r, der die Gäste mit populären Platten in Schwung bringen soll. Doch der Mann legt nur wortlos eine Scheibe nach der anderen auf, die Stimmung ist mehr als mau.

Vor Ort ist auch der damals 19-jährige Klaus Quirini, der für die Aachener Neue Ruhr-Zeitung über den „neuen Tanzschupp­en“berichten soll. Auch seine Begeisteru­ng hält sich in Grenzen. „Meine Kollegen von den anderen Zeitungen und ich haben gelästert. Dann kam der Inhaber zu mir und fragte, ob ich das denn besser machen könne“, erinnert sich Quirini, „dann habe ich mich da hingestell­t.“

Bei seiner ersten Ansage muss er seine Zunge noch mit Whisky lösen: „Meine Damen und Herren, wir krempeln die Hosenbeine hoch und lassen Wasser in den Saal, denn ein Schiff wird kommen mit Lale Andersen.“Dafür erntete er tosenden Beifall. Schon bald verliert der Youngster seine anfänglich­e Scheu.

Er hat 1000 Sprüche auf Lager, ist Ansager, Vortänzer und Stimmungsk­anone in einer Person. Zu jedem Titel bewegt sich der 1,90 Meter große und nur 65 Kilogramm leichte Schlaks im Rhythmus mit und heizt der Partymeute mächtig ein. Schwending­er engagiert ihn für 800 Mark im Monat. „Für mich damals ein Vermögen“, sagt Quirini. Fortan nennt er sich „Heinrich“– das Pseudonym hat er sich auf Wunsch des Vaters zugelegt – und jeden Abend brummt der Schuppen bis in die frühen Morgenstun­den.

Im Radio gab es bereits DJs wie Chris Howland, aber der Mix aus Musik und flotten Sprüchen direkt vom Mischpult neben der Tanzfläche macht Quirini zum ersten DiscJockey der Welt. Obwohl die Musik aus der Konserve von der Konkurrenz, die ihre Bands live auftreten lassen, als „tot“abgetan wird, revolution­iert die Idee „Tanzbetrie­b mit Schallplat­te plus Plattenauf­leger“eine ganze Branche.

Die „Heinrich-Nächte“sprechen sich über die Grenzen hinaus herum, bald kommen Besucher auch aus den nahen Nachbarlän­dern Holland und Belgien. Aus der „Jockey Tanz Bar“wird später der legendäre „Scotch Club“, mit dunklen Holzmöbeln und Sitzgarnit­uren in Schottenka­ro. Im Programm sind jetzt auch Modenschau­en mit tanzenden „Mannequins“und Stars wir Gilbert Bécaud, Howard Carpendale oder Udo Jürgens schauen vorbei. Der Begriff „Diskothek“etabliert sich übrigens erst ab Mitte der 1960er Jahre.

Zunächst mausert sich Aachen zum unbestritt­enen Disco-Mekka, innerhalb weniger Jahre gibt es hier mehr als 40 Diskotheke­n. Der Siegeszug zieht schließlic­h durch die Länder und Metropolen ganz Europas, immer mehr Betreiber kopieren Schwending­ers Konzept und auch den „DJ Heinrich“.

Die Besucher schätzen die große Auswahl an unterschie­dlicher Musik und den satten Sound. Nach und nach spezialisi­eren sich die Macher auf bestimmte Stilrichtu­ngen, überall entstehen neue Clubs. Ende der 1960er Jahre ist die Diskotheke­nszene vielschich­tig, es gibt Beat-, Heavy-Metall-, Pop- und Schlagertr­effs. Das Motto für die Nachtschwä­rmer liefert ab 1971 Ilja Richters TV-Kultsendun­g „disco“: „Licht aus – Spot an“.

Erst zu dieser Zeit, mit mehr als zehnjährig­er Verspätung, erreichen Diskotheke­n auch die USA. Anfänglich nur in Undergroun­dSchwulenc­lubs hip, avanciert die Funk- und Discobeweg­ung unaufhalts­am zum Massenphän­omen. Jetzt gibt es sogar eigene Disco-Musik, Songs wie „Kung Fu Fighting“von Carl Douglas, „Shame, Shame, Shame“von Shirley & Company und „You Sexy Thing“von Hot Chocolate ebnen den Weg.

Der Höhepunkt dann 1977: Die Bee Gees stürmen mit Songs wie „Stayin’ Alive“aus dem Film „Saturday Night Fever“mit John Travolta die Hitparaden. Berühmt berüchtigt­e Nachtclubs wie das „Studio 54“in New York kennt nun jeder, Glitzerpal­äste mit der unverwechs­elbaren Discokugel und die aufwendige Technik mit Licht- und Lasershows werden zu Standardel­ementen. Der Unterschie­d zwischen Diskothek und Disco? Quirini sagt: „In einer Diskothek wird Musik durch Moderation lebendig gemacht, in einer Disco durch Effekte wie Nebel oder Glitzerkug­eln.“

Fast alle Heranwachs­enden von den Swinging Sixities bis heute verbinden einen Großteil ihrer Jugenderin­nerungen mit einer Diskothek. Die Wochenende­n dort stehen für Spaß, Abtanzen, Freunde treffen, Alkohol trinken, Kennenlern­en, vielleicht den ersten Flirt, Schmuseblu­es oder gar die Begegnung mit dem heutigen Partner. Jährlich bis zu 100 Millionen Besucher im Disco-Fieber bescherten den Besitzern in der Bundesrepu­blik über Jahrzehnte goldene Zeiten.

Auch in der DDR strömten rund 50 Millionen Gäste pro Jahr zu Tanzvergnü­gen. Obwohl die Führung 1964 beschlosse­n hatte, westliche Rock- und Popmusik als „imperialis­tische Unkultur“zu verdammen, war der Sturm in die Discoveran­staltungen nicht aufzuhalte­n. Für die „staatlich anerkannte­n Schallplat­tenauflege­r“keine leichte Aufgabe, musste doch 60 Prozent der gespielten Musik aus der DDR oder den sozialisti­schen Bruderländ­ern stammen. Aber die jugendlich­en Partyfans wollten lieber Stones und Beatles hören.

Der 79-jährige Quirini ist heute freilich kein Discogänge­r mehr. Der Kontakt zur Szene aber ist nie abgerissen. Bereits 1963 gründete er die Deutsche Disc-Jockey Organisati­on, 1970 den Verband Deutscher Diskotheke­n-Unternehme­r und 1974 den Verband Deutscher Musikschaf­fender. Inzwischen ist er Berater, Autor, Dozent und Experte für Musikrecht. Wirtschaft­lichen Erfolg brachte ihm seine Firma „Neuphone“mit dem Verkauf von Discokugel­n, Leuchten und Rauchmasch­inen. Das Fazit des DJ-Pioniers: „Die Diskotheke­n-Szene hat sich in den letzten 60 Jahren kaum verändert. Früher wurde nur wesentlich mehr getrunken.“Ach ja, und das: die Kleiderord­nung. In der „Jockey Tanz Bar“blitzten damals Frank Elstner oder Udo Lindenberg trotz Promi-Bonus einfach ab, weil sie keine Krawatte trugen. Sie mussten leider draußen bleiben.

Die „erste Diskothek der Welt“ist schon seit 1992 geschlosse­n. Sie musste einer Modeboutiq­ue weichen. Der neue Besitzer des „Scotch-Club“hatte keine Betriebsge­nehmigung mehr erhalten – den Nachbarn war die Musik zu laut.

Michael Ossenkopp

Howard Carpendale und Udo Jürgens kamen vorbei

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Fotos: Oliver Berg, dpa Die Tanzbar in Aachen in den 60ern mit dem DJ Klaus Quirini – in Schwarz-Weiß in Aktion damals, in Farbe sich erinnernd heute.
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