Mittelschwaebische Nachrichten
Beim Abspecken tut sich der Bundestag schwer
Wahlrecht Die Zahl der Abgeordneten steigt und droht zu explodieren. Doch eine Reform des komplizierten Systems scheiterte bisher an völlig gegensätzlichen Interessen. Jetzt könnte Bewegung in die Sache kommen
Berlin In der französischen Nationalversammlung sitzen 577 Abgeordnete, im US-amerikanischen Repräsentantenhaus 435. Der aktuelle Deutsche Bundestag hat dagegen 709 Abgeordnete und künftig könnten es sogar mehr als 800 sein. In der Theorie sind sich praktisch alle Politiker einig, dass es so nicht weitergehen kann. Und das nicht nur wegen der erheblichen Mehrkosten für den Steuerzahler.
Durch die Unfähigkeit der Politik, der fortschreitenden Aufblähung des Bundestags Einhalt zu gebieten, sinkt das Vertrauen in die Demokratie insgesamt. In der Bevölkerung wächst der Eindruck, dass es den Politikern zuallererst um den eigenen Vorteil geht. Eines ist ja klar: Wenn das Wahlrechtsgesetz von 2013 geändert würde, säßen viele der heutigen Abgeordneten künftig nicht mehr im Bundestag, verlören Macht und Einfluss. Gleiches gilt für die Parteien. Welche Fraktion wünscht sich schon weniger Mitglieder? So schimpfen viele über das komplizierte System von Überhang- und Ausgleichsmandaten, doch geändert hat sich bislang nichts. So war es auch keine Überraschung, dass eine fraktionsübergreifende Arbeitsgruppe unter der Leitung von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im April ohne Ergebnis auseinanderging.
Die Situation scheint völlig verfahren. CDU und CSU profitieren am meisten vom bisherigen System. Sie gewinnen die meisten Direktmandate, die CSU in Bayern oft sogar alle. Eine Reduzierung der bislang 298 Wahlkreise ist mit der Union also nicht zu machen. Schäuble etwa hatte vorgeschlagen, die Zahl der Wahlkreise auf 270 zu reduzieren und bis zu 15 Überhangmandate nicht durch Ausgleichsmandate zu kompensieren. Er stützte sich damit auf das Bundesverfassungsgericht, das entschieden hatte, dass eine bestimmte Zahl von Überhangmandaten nicht ausgleichspflichtig sei – nämlich 15. Da in der Praxis meist die Union die Überhangmandate hat, lehnen SPD und Opposition Forderungen nach folgenlosen, nicht auszugleichenden Überhangmandaten vehement ab.
In dem Streit geht es auch um die alte Frage, ob nun ein Direktmandat oder ein über die Parteiliste errungenes Mandat das „wertvollere“sei. Hier gehen die Meinungen naturgemäß auseinander. Gerne verweisen die selbstbewussten WahlkreisCDU gewinner darauf, dass sie sich nur ihren Wählern verpflichtet fühlen, nicht aber der Partei, die die Listen aufstellt.
Ende August hatte die CSU mit einem neuen Vorschlag aufhorchen lassen. Der Bundestag soll danach auf höchstens 650 Sitze begrenzt werden. Wie bisher würden 299 Abgeordnete direkt gewählt. Die restlichen 351 Abgeordneten würden über die Landeslisten der Parteien kommen. Alle Überhang- und Ausgleichsmandate müssten innerhalb dieser 351 Sitze verrechnet werden. Anfang Oktober präsentierten die Bundestagsfraktionen von FDP, Grünen und Linken ihren Vorstoß. Die Zahl der Wahlkreise soll auf 250 reduziert, die Normalgröße des Bundestags auf 630 erhöht werden. Überhangmandate sollen parteiintern über die Grenzen der Bundesländer hinweg ausgeglichen werden.
Wenn etwa die CDU in Land A Überhangmandate holt, werden ihr Listenmandate in Land B abgezogen. Nur wenn ein solcher Ausgleich nicht möglich ist, weil keine Listenmandate vorhanden sind, gibt es nach bisherigem Muster Ausgleichsmandate für andere Parteien. Während die Union auch künftig kaum einer Reduzierung der Wahlkreise zustimmen wird, könnte der Gedanke des parteiinternen Ausgleichs von Überhangmandaten auf Bundesebene den Weg in Richtung eines Kompromisses weisen. Der einflussreiche Chef des UnionsWirtschaftsflügels, Christian von Stetten (CDU), will sogar einheitliche Bundeslisten für alle Parteien.
Nur in Bayern bliebe nach seiner Idee allein die CSU, nicht aber die wählbar. Von Stetten kritisiert seit Jahren, dass der Bundestag immer weiter wächst, und weiß in dieser Frage viele Unions-Freunde hinter sich. Ob er sich durchsetzen kann, wird sich zeigen. Doch die Debatte um die Wahlrechtsreform kommt nun wieder in Gang. Darüber dürfte sich auch SPD-Bundestagsvize Thomas Oppermann freuen. Der hatte kürzlich eine schnelle Einigung angemahnt und bezweifelt, dass ein Bundestag mit 800 Abgeordneten „noch die Kraft hätte, eine Verkleinerung herbeizuführen“.