Mittelschwaebische Nachrichten

Der tiefe Fall des Alfred Lehmann

Justiz Zwölf Jahre war er Oberbürger­meister von Ingolstadt. Der sensatione­lle Aufstieg der Stadt ist auch mit seinem Namen verknüpft. Nun steht fest: Er ist der Korruption schuldig und entgeht gerade noch dem Gefängnis. Wie konnte es so weit kommen?

- VON LUZIA GRASSER UND STEFAN KÜPPER

Ingolstadt Alfred Lehmann erscheint an diesem Dienstag vor dem Landgerich­t so wie immer. Anzug, Krawatte, weißes Hemd. Ein sehr korrektes äußeres Erscheinun­gsbild. So, wie man ihn seit Jahrzehnte­n kennt, steht er da, als die Richter am Morgen den Sitzungssa­al betreten. Wie man es von einem Altoberbür­germeister erwartet. Er macht eine gute Figur, wie früher, als er noch im Amt war. Nur ist es so, dass der 69-Jährige, als er da steht, den Ehrentitel Altoberbür­germeister schon nicht mehr führt. Und das hat damit zu tun, was Richter Jochen Bösl dann, um 9.15 Uhr, verkündet.

Alfred Lehmann ist schuldig. Er hat sich bestechen lassen und Vorteile angenommen. Er wird zu einer Freiheitss­trafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. 383 000 Euro seines Vermögens werden zudem eingezogen. Lehmann lässt sich nichts anmerken. Er wahrt die Form, der Anzug sitzt.

Wie zerknitter­t der Mann innerlich ist, weiß nur er selbst. Er hat die drei wohl schlimmste­n Jahre seines Lebens hinter sich. Drei Jahre seit Beginn der Ermittlung­en, in denen er tief gefallen ist. Damals war er der honorige Altoberbür­germeister, saß noch im Stadtrat, war unter anderem Aufsichtsr­at im Klinikum, war im Krankenhau­szweckverb­and, im Verwaltung­srat der Industrief­ördergesel­lschaft IFG. Er blickte auf eine steile Karriere zurück, war ein Mann, auf dessen Wort und Meinung man Wert legte, weil er für Ingolstadt viel erreicht hatte. Der steile, wirtschaft­liche Aufstieg der Stadt ist mit seinem Namen verknüpft.

Als Lehmann am 13. Januar 2014 seinen letzten Neujahrsem­pfang als Oberbürger­meister gab, konnte er in seiner Rede auch die New York Times zitieren. Die hatte das deutsche Jobwunder am Beispiel von Ingolstadt erzählt. Und der Figaro, so Lehmann, habe Ingolstadt als „Eldorado des Wachstums“bezeichnet. Die Welt hatte Ingolstadt einen Text unter dem Titel gewidmet: „Reich und glücklich“.

Kurz vor Ende seiner Amtszeit konnte Lehmann sagen, dass er davon ausgehe, dass Ingolstadt die „Erfolgsges­chichte, die wir im letzten Jahrzehnt geschriebe­n haben“, fortsetzen könne. Er lobte das Konstrukt einer Stadt mit vielen Tochterges­ellschafte­n, eines „Bürgerkonz­erns“, der für das Wohl der Ingolstädt­er arbeite. Lehmann sagte: „Wir haben 2014 nun das achte Jahr in Folge einen Haushalt für die Stadt Ingolstadt ohne Neuverschu­ldung beschlosse­n. Und die Stadt ist de facto – wenn Sie unsere Kredite und Rücklagen verrechnen – schuldenfr­ei. Hier in Ingolstadt ist die Welt also in Ordnung.“Er habe sich, so Lehmann ganz am Ende seiner Rede, mit ganzer „Kraft und Leidenscha­ft“für sie und die Bürger eingesetzt. Er warb für mehr Vertrauen in die Politik. Und er sagte: „Ich liebe diese Stadt.“

Die Frage ist nicht erst seit Dienstag, wie sehr Ingolstadt Lehmann noch liebt. Denn als er 2014 seinen letzten Neujahrsem­pfang gab, hatte er nach Überzeugun­g des Gerichts bereits jene Unrechtsve­reinbarung­en getroffen, die ihn im März 2019 auf die Anklageban­k führten.

Es geht um zwei Immobilien­deals, bei denen sich Alfred Lehmann nach Auffassung des Gerichts persönlich bereichert hat: Studentenb­uden und seine Privatwohn­ung in der Ingolstädt­er Altstadt hat er rund 383000 Euro billiger bekommen. In beiden Fällen soll er sich für die Interessen der Investoren eingesetzt haben. Während die Verteidigu­ng auf eine Bewährungs­strafe von unter einem Jahr plädiert hatte, forderte die Staatsanwa­ltschaft eine dreijährig­e Gefängniss­trafe.

Auf einem ehemaligen innerstädt­ischen Bundeswehr­gelände haben Alfred Lehmann und sein Vater vor acht Jahren insgesamt 16 Studentena­ppartement­s gekauft. Bezahlt haben sie für die Wohnungen samt Sanierung 650 000 Euro. Viel zu billig, sagte ein Gutachter vor Gericht. Die Wohnungen seien damals rund 1,1 Millionen Euro wert gewesen. War alles vielleicht nur ein Freundscha­ftspreis, wie Lehmann lange behauptet hat?

Immerhin kannte er das Investoren-Ehepaar, man duzte sich, fuhr gemeinsam in den Allgäu-Urlaub. Richter Jochen Bösl hält das für wenig glaubwürdi­g: „Ein Vorteil von fast einer halben Million Euro, nur man so gut befreundet ist, ist ausgeschlo­ssen.“Vielmehr haben sich die Investoren nach Auffassung des Gerichts erhofft, dass sich Lehmann in seiner Funktion als Oberbürger­meister für das Projekt einsetzen könne. Er saß schließlic­h qua Amt in mehreren Gremien städtische­r Tochterges­ellschafte­n, die im Bürgerkonz­ern für den Verkauf der fraglichen Immobilien zuständig waren. Lehmann hatte von einem städtische­n Beamten trotz dessen Zweifeln gefordert, den Verkauf mit zahlreiche­n Änderungsw­ünschen des Käuferpaar­s abzuwickel­n.

Nur wenig später stand der Verkauf des Krankenhau­s-Areals in der Ingolstädt­er Altstadt an. Lange hatte der damalige OB nach einer Wohnung in der Innenstadt gesucht, nun schien er sie gefunden zu haben. Und wieder war der Grundstück­sverkauf etwas „dubios“, wie es Richter Bösl formuliert. Einen fingierten Losentsche­id bei der Vergabe an einen Unternehme­r aus dem Kreis Pfaffenhof­en hatte Lehmann bereits bei Prozessauf­takt zugegeben. Der aber taucht in den Akten der Justiz nur am Rande auf. Zum Verhängnis geworden war Lehmann ein Deal, den er mit der Baufirma ausgehande­lt hatte und nach langem Leugnen vor Gericht auch zugegeben hat. Er hatte einen Kaufvertra­g allein für eine Rohbauwohn­ung abgeschlos­sen, tatsächlic­h aber sollte die Firma das 170-Quadratmet­erAppartem­ent in bester Lage für den gezahlten Preis von 535000 Euro auch ausbauen. Insgesamt hatte sich Lehmann auf diese Weise rund 28 000 Euro erspart.

Während er sich also eine billige Wohnung sicherte, konnte die Baufirma deutlich mehr Geschossfl­äche bauen, als zunächst vereinbart war. Das aber hätte von Fachleuten genau geprüft werden müssen, was Lehmann aber nicht veranlasst­e. Davon geht das Gericht aus.

Dabei kennt sich Lehmann nicht nur in Verwaltung­sabläufen, sonweil dern auch in der Wirtschaft bestens aus. Der promoviert­e Ökonom und gebürtige Schleswig-Holsteiner kam in den 80er Jahren nach Ingolstadt. Er stieg bei der Handwerksk­ammer für München und Oberbayern (im Bildungsze­ntrum Ingolstadt) ein, deren Geschäftsf­ührer er schließlic­h wurde. Die CSU entdeckte sein Talent. 1996 wurde er Wirtschaft­sreferent der Stadt und 2002 schließlic­h als Kandidat für die Nachfolge von Peter Schnell (CSU) aufgestell­t.

Lehmann reüssierte. Er gewann die Wahl für die CSU mit 58 Prozent und wurde 2008 (53,4 Prozent) im Amt bestätigt. Als Lehmann nach zwölf Jahren Ende April 2014 ging, sagte Bayerns damaliger Ministerpr­äsident Horst Seehofer: „Wir haben mit Alfred Lehmann einen der besten Oberbürger­meister, den Bayern vorweisen kann.“Auch als Wirtschaft­sminister war er einst im Gespräch gewesen.

Die Zeit der lobenden Worte ist für Lehmann schon länger vorbei. Richter Bösl beginnt seine Urteilsbeg­ründung mit einem Zitat aus einer Rede von Papst Franziskus, vor einer Delegation der Internatio­nalen Strafrecht­sgesellsch­aft. Der Papst hatte da über „das Verbrechen der Korruption“gesprochen und gesagt: „Der Korrupte nimmt seine Korruption nicht wahr. Es ist ein wenig wie mit Mundgeruch: Wer ihn hat, bemerkt ihn kaum; die anderen bemerken es und müssen es ihm sagen.“

Bösl macht Lehmann und dem mitangekla­gten Vertreter eines Bauträgers dann über fast fünf Stunden klar, wo aus Sicht der Kammer der üble Odeur herwehte. Wie immer sehr sachlich im Ton, sehr ausführlic­h und sehr unaufgereg­t schildert Bösl den „äußerst mühsamen“Prozess der Wahrheitsf­indung Lehmanns.

Der hatte zum Prozessauf­takt im März zunächst alle Vorwürfe – die Anklage hatte ursprüngli­ch auf Untreue und Bestechlic­hkeit gelautet – von sich gewiesen und betont: „Es gab keine Bestechung und keine Untreue.“Er habe stets im Interesse der Stadt und ihrer Bürger gehandelt. In seinem ganzen Leben habe es noch keinen Versuch gegeben, ihn zu bestechen: „Ich habe mich immer an die Regeln gehalten.“

Sehr spät im Prozess hatte Lehmann dann doch gestanden. Und als ihm das letzte Wort erteilt worden war, hatte er reuig und unter Tränen gesagt, besonders leid tue ihm, dass er das Amt des Oberbürger­meisters beschädigt habe, „das wollte ich am allerwenig­sten, das verzeihe ich mir am allerwenig­sten“.

Bösl sagt am Dienstag nun mit Blick auf das spät erfolgte, aber entscheide­nde Geständnis Lehmanns: „Wenn ein Angeklagte­r über Monate leugnet, dann seine Äußerungen anpasst, dann macht das erst mal nicht den allerbeste­n Eindruck.“Die Kammer erkannte aber an, dass Lehmann mit seinem – wenn auch nicht vollumfäng­lichen – Geständnis letztlich doch zum Rechtsfrie­den beigetrage­n habe. Dieses, weil es glaubhaft gewesen sei, habe eine Bewährungs­strafe ermöglicht.

Bösl sagt, er wisse, dass nun die öffentlich­e Debatte beginne. Dass man sagen werde, die Kleinen sperre man weg und die Großen lasse

Die Weltpresse blickte nach Ingolstadt und staunte

Richter Bösl sagt: Wir haben ein gutes Gewissen

man davonkomme­n. Er betont aber, dass Lehmann vor Gericht behandelt worden sei wie jeder andere auch. Lehmann sei nicht vorbestraf­t und habe eine günstige Sozialprog­nose. Das Amt des OB dürfe kein Bonus, aber auch kein Malus sein. Die Kammer, so Bösl weiter, „habe sich nicht beeinfluss­en lassen. Wir haben ein gutes Gewissen bei dieser Entscheidu­ng.“

Sollte das Urteil rechtskräf­tig werden, bleibt Lehmann zwar das Gefängnis erspart, aber vorbei ist das alles für ihn noch nicht. Die Stadt Ingolstadt will das Urteil zunächst nicht kommentier­en und die schriftlic­he Urteilsbeg­ründung abwarten. Dann aber würden Stadtverwa­ltung und Tochterges­ellschafte­n prüfen, ob zivilrecht­liche Forderunge­n gegenüber Lehmann zu erheben sind. Lehmann und der zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt­e Bauträger werden ferner für die Prozesskos­ten aufkommen müssen. Lehmann wird seine Pensionsan­sprüche verlieren. Und auf den Ehrentitel als Altoberbür­germeister hat er laut Stadt inzwischen freiwillig verzichtet.

Richter Bösl sagt am Dienstag auch diesen Satz: „Der Fall ist besonders tief, wenn man so weit oben steht.“

 ?? Foto: Luzia Grasser ?? Ingolstadt­s Ex-Oberbürger­meister Alfred Lehmann hat sich bestechen lassen. Das Landgerich­t Ingolstadt verurteilt­e ihn zu einer Bewährungs­strafe.
Foto: Luzia Grasser Ingolstadt­s Ex-Oberbürger­meister Alfred Lehmann hat sich bestechen lassen. Das Landgerich­t Ingolstadt verurteilt­e ihn zu einer Bewährungs­strafe.

Newspapers in German

Newspapers from Germany