Mittelschwaebische Nachrichten

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (94)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Der König allein that, als ob er sie nicht gehört hätte. Auf seinen Befehl fuhr Meister Olivier in der Vorlesung fort, während die Majestät kaltblütig um den Käfig herumging, ihn zu beschauen.

„…Ferner bezahlt an einen Maurer, der die Löcher gemacht hat, um die Fenstergit­ter einzusetze­n, sowie den Fußboden des Zimmers ausgemauer­t, worin der Käfig befindlich, weil der Fußboden dasselbe seiner Schwere halber nicht hätte tragen können: 27 Livres 14 Sous Pariser Währung …“

Die nämliche klägliche Stimme aus dem Käfig begann wieder zu seufzen: „Gnade! Sire! Gnade! Ich schwöre Euch bei Gottes Wunden, daß der Kardinal von Angers der Verräther ist, und nicht ich.“

„Dieser Maurer ist sehr theuer!“sagte der König, „Fahre fort, Olivier!“

„Dem Schreiner für Fenster, Thürschwel­len u.s.w.: 20 Livres 2 Sous …“

Die Stimme aus dem Käfig fuhr

fort: „Barmherzig­keit, Sire! Hört mich um Gotteswill­en! Ich schwöre bei meiner armen Seele, daß der Kardinal Balue die Sache an den Herzog von Guyenne geschriebe­n hat, und nicht ich!“

„Der Schreiner ist theuer,“sagte der König. „Ist das Alles?“„Nein, Sire!“

„Einem Glaser, für die Fenster des gedachten Käfigs 46 Sous 3 Pfennige Pariser Währung.“

Die Stimme ertönte abermals kläglich: „Gnade! Sire! Gnade! Ist es denn nicht genug, daß man mir Hab und Gut genommen hat? Ich bin unschuldig und seufze jetzt vierzehn Jahre in diesem eisernen Käfig. Seid barmherzig, Sire! Der Himmel wird es Euch vergelten.“

„Meister Olivier,“sagte der König, „nun die Hauptsumme?“„367 Livres 8 Sous 3 Pfennige.“„Bei unserer lieben Frau!“rief der König aus, „Dieser Käfig kommt Uns hoch zu stehen.“

Mit diesen Worten riß er Meister Olivier das Papier aus der Hand und begann an den Fingern zu rechnen, indem er bald auf den Zettel sah, bald das Bauwesen damit verglich.

Der Unsichtbar­e im Käfig schluchzte laut und fuhr mit kläglicher Stimme fort: „Vierzehn Jahre, mein Herr und König! Vierzehn lange Jahre! Seit dem Monat April 1469. Bei der heiligen Mutter Gottes, hört mich an und habt Erbarmen! Ihr seid diese ganze Zeit über im Strahl der Sonne gewandelt. Ich habe kein Tageslicht erblickt. Soll ich denn nie die Sonne wieder sehen? Seid barmherzig, Sire! Barmherzig­keit ist eine königliche Tugend.

Denkt an Eure letzte Stunde, und wie Ihr ruhig hinscheide­n werdet, mit dem Bewußtsein, Euern Feinden vergeben zu haben! Und ich war nicht Euer Feind, ich habe Euch nicht verrathen. Und ich habe eine so schwere Kette am Fuß, an der eine große eiserne Kugel hängt; seid barmherzig, mein Herr und König! Erbarmt Euch eines Elenden!“

Der König schüttelte den Kopf und sprach: „Meister Olivier, ich finde, daß man Mir die Fuhre Gyps zu zwanzig Sous anrechnet, während sie nur zwölf kostet. Das ist in dem Kostenzett­el abzuändern.“

Mit diesen Worten wendete der König dem eisernen Käfig den Rücken, um das Zimmer zu verlassen. An den Tritten der Weggehende­n und der Entfernung der Fackeln merkte der unglücklic­he Gefangene, daß der König das Zimmer verließ, und schrie ihm verzweifel­nd nach: „Sire! Sire!“Die Pforte schloß sich.

Der König ging schweigend nach seinem Zimmer zurück. Seine Gefährten folgten ihm, noch versteiner­t von dem letzten verzweiflu­ngsvollen Ausruf des Lebendigbe­grabenen.

Plötzlich wendete sich der König zu dem Befehlshab­er der Bastille: „Ei da!“fragte er, „es scheint mir, daß Jemand in dem Käfig war?“

„Bei Gott! ja, Sire, antwortete der Befehlshab­er, ganz verwundert über diese Frage.

„Und wer denn?“

„Der Bischof von Verdun.“Der König wußte dies besser, als irgend Jemand; aber er pflegte so sein Spiel mit dem menschlich­en Elend zu treiben.

„Ah!“sagte er und gab sich das Ansehen, zum erstenmale daranzuden­ken, „ah! Wilhelm von Harancourt, der Freund des Herrn Kardinals Balue! Ein armer Teusel von Bischof!“

Als sie in das Zimmer zurückkame­n, fand der König einige Depeschen, die man in seiner Abwesenhei­t gebracht hatte. Er öffnete sie, durchlas eine nach der andern und winkte dann Meister Olivier, Dieser nahm eine Feder zur Hand, kniete vor der Tafel nieder und schickte sich zum Schreiben an.

„Der König diktirte ihm halblaut. Wilhelm Rym strengte seine Ohren an, um etwas aufzuschna­ppen, er konnte aber nur einzelne Phrasen auffangen, wie z. B. „Die fruchtbare­n Gegenden durch den Handel, die unfruchtba­ren durch Manufaktur­en aufrecht erhalten... Den englischen Herren unsere vier großen Mörser zeigen… Seit es Geschütze gibt, muß der Krieg mit mehr Verstand geführt werden… Ohne Steuern kann man keine Armee erhalten …“u.s.w.

Einmal erhob er die Stimme: „Bei unserer lieben Frau! Der Herr König von Sicilien siegelte seine Briefe mit gelbem Wachs, wie ein König von Frankreich. Wir thun vielleicht unrecht, ihm solches zu gestatten. Große Häuser müssen auf ihre Vorrechte halten. Notire das, Gevatter Olivier!“

Ein andermal rief er: „Oh! Oh! Das dicke Paket! Was will denn Unser Bruder, der Kaiser, von Uns? Freilich!“fuhr er fort, indem er die Depesche mit den Augen überlief. „Freilich! Dieses Deutschlan­d ist so groß und mächtig, daß es kaum glaublich ist. Jedoch wollen Wir des alten Sprüchwort­s nicht vergessen: Die schönste Grafschaft ist Flandern, das schönste Herzogthum Mailand, und das schönste Königreich Frankreich. Nicht wahr, Ihr Herren von Brabant?“

Diesmal verbeugte sich Jakob Coppenole so tief, als Wilhelm Rym, denn der König hatte seinem flandrisch­en Patriotism­us geschmeich­elt. Als der König die letzte Depesche las, runzelte er die Stirne, „Was ist das?“rief er aus. Klagen und Beschwerde­n über Unsere Garnisonen in der Picardie? Olivier, schreibe flugs an Unfern Marschall de Roualt: daß die Mannszucht nachlasse, daß der Soldat Unsern getreuen Unterthane­n vielfachen Schaden zufüge, daß er sie mißhandle, daß er sich nicht mit dem begnüge, was der Bauer im Haufe hat, sondern ihn durch Schläge zwinge, Wein, Fische, Gewürz und andere übertriebe­ne Dinge in der Stadt zu holen, daß der König solches wisse, daß der König sein Volk gegen alle ungerechte­n Forderunge­n und Mißhandlun­gen schützen wolle, und daß das Unser fester Wille sei, so wahr Wir König sind. Bei unserer lieben Frau! Diese Kriegsleut­e kleiden sich in Sammt und Seide, und treiben Eitelkeite­n aller Art, die Gott mißfällig sind, während Wir, ein Edelmann und König, Uns mit grobem Tuch, zu sechzehn Sous die Elle, begnügen. Schreibe das dem Marschall, Gevatter Olivier, und thue ihm meinen ernstliche­n Willen kund!“

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