Mittelschwaebische Nachrichten
Was tun bei einem Amoklauf?
Übung Polizei, Feuerwehr und Sanitäter proben in einem Großeinsatz bei der Ratiopharm-Arena den Katastrophenfall
Neu-Ulm Es ist ein Szenario, wie es keiner der Beteiligten jemals in der Realität erleben möchte: Aus dem Inneren der Ratiopharm-Arena in Neu-Ulm dringt das Geräusch von Schüssen nach draußen, Menschen schreien und rennen in Panik um ihr Leben. Auch wenn es sich beim Einsatz nur um eine Katastrophenschutzübung handelt, sorgen die rund 100 Darsteller mit ihrem dramatischen Verhalten für viel Stress bei den Rettungskräften.
Die Polizei, die nur wenige Minuten nach dem ersten Notruf vor Ort ist, geht von einem Terroranschlag aus. Deshalb hat der Einsatzleiter der Feuerwehr für die nachfolgenden Rettungskräfte vom Roten Kreuz zunächst den Rückzug vom vermuteten Tatort angeordnet. Dutzende Krankenwagen haben sich in ausreichender Entfernung von der Halle in Sicherheit gebracht. Auch die schwerbewaffneten und mit Schutzwesten gesicherten Polizisten halten sich zunächst zurück und sichern in Gruppen das äußere Umfeld der Halle ab. Polizeisprecher Holger Stabik erklärt, dass dieses Verhalten seiner Kollegen durchaus so in der Ausbildung geübt wird. „Der Eigenschutz geht vor Fremdrettung, auch wenn man als Polizist sein ,Helfergen‘ in diesem Moment unterdrücken muss.“
Niemand möchte sich in diesem Moment vorstellen, wie es tatsächlich wäre, wenn die Helfer vor der Halle zusehen müssten, wenn angeschossene Opfer verbluten würden. Bei Anschlägen in anderen Ländern fielen zahlreiche Menschen dem „Second Hit“zum Opfer, als die Attentäter beim Eintreffen der Hilfskräfte ein weiteres Mal zugeschlagen hatten. In der Halle ist die Lage derweil noch unübersichtlich.
Nach etwa 30 Minuten rücken die rund 20 Männer und Frauen des Operativen Einsatzdienstes an. Mit klaren Ansagen der Einsatzleiter stürmt der Trupp im Schutz von Fahrzeugen, Hauswänden und Gebüschen in Richtung Halle. Noch ist ein lauter, dumpfer Knall zu hören. Darüber, was im Inneren der Arena geschieht, lässt sich die Polizei jedoch nicht in die Karten schauen. Nach rund 20 Minuten rücken die Spezialisten wieder ab – der Täter ist wohl gestellt.
Gleichzeitig irren die beiden Opferdarstellerinnen Xenia Baumann und Jenny George im Freien umher. Die beiden haben aufgeschminkte Verletzungen und sind echte Profis in ihrer Rolle: Sie machen den Polizisten mächtig Stress, weil sie dringend Hilfe von den Rettungskräften fordern, diese jedoch nicht zum Tatort vordringen dürfen. Auch die Besatzung eines Krankenwagens, der an der Gruppe vorbeifährt, hält nicht an, um zu helfen. Langsam beeinmal ginnt die Stimmung der Darsteller zu kippen und aus Spiel wird Ernst. Schließlich stehen die beiden schon seit fast einer Stunde im T-Shirt frierend im Regen.
Endlich geben die Einsatzleiter Entwarnung und lassen die wartenden Hilfskräfte anrücken: Eine zweite Blaulichtwelle mit dutzenden Rettungswagen rollt lautstark auf die Halle zu. Im Inneren der Arena, die nun betreten werden darf, bieten rund 100 Darsteller ein bizarres Bild: Manche blicken traumatisiert im Schock vor sich hin. Andere liegen in rotem Theaterblut am Boden, eine junge Frau schreit nach Hilfe. Die vielen Rettungskräfte sind kaum in der Lage, allen gleichzeitig zu helfen, während die Vorsichtung der Beteiligten ein System ins Chaos bringen soll. Dabei werden die Betroffenen mit Schildern markiert: Ein grünes Schild kennzeichnet gehfähige Patienten, während Rot für eine „sofortige Behandlung“steht. Sachlich und nüchtern ist im „Vorsichtungsalgorithmus“zu lesen, dass Patienten, die „nicht mit dem Leben vereinbare Verletzungen“haben, die Todesfeststellung durch einen Arzt erhalten sollen.
Nach etwas mehr als zwei Stunden sind die meisten Darsteller in der Halle versorgt. Opferdarstellerin Baumann hat nun auch endlich eine wärmende Decke bekommen. Manche Kollegen würden sich bei einer Übung so sehr in ihre Rolle steigern, dass es kritisch werden könne, sagt sie. Um den Ernstfall von der Übung zu unterscheiden sei deshalb ein Codewort vereinbart worden. Bei der aktuellen Katastrophenübung war es „Gänseblümchen“, verrät Baumann.
Auch Landrat Thorsten Freudenberger sieht sich die Szenen vor Ort, die unter der Regie der Führungsgruppe Katastrophenschutz am Landratsamt durchgeführt werden, an. Er erklärt, dass die Darstellung des Einsatzes für ihn beklemmend sei, wenn eine solche Großübung auch die Realität gut abbilden würde. Er fügt hinzu: „Es ist gut, wenn wir auf etwas vorbereitet sind, was hoffentlich niemals eintrifft.“Deshalb wird eine solche Großübung alle sechs Jahre durchgeführt, neben Neu-Ulm war der zweite Schwerpunkt am Samstag im Bereich Kellmünz, Weiler und Osterberg. Für den Polizeisprecher Holger Stabik wurde vor sechs Jahren ein Amokalarm in Kempten zur Realität, wie er erzählt. Die Lebensgefahr, in die man sich als Polizist zu diesem Zeitpunkt begibt, würde man ausschalten, erklärt Stabik: „Man ist darauf fokussiert, handlungsfähig zu bleiben.“
Rettungskräfte können zunächst nicht in die Halle