Mittelschwaebische Nachrichten

Was tun bei einem Amoklauf?

Übung Polizei, Feuerwehr und Sanitäter proben in einem Großeinsat­z bei der Ratiopharm-Arena den Katastroph­enfall

- VON ANDREAS BRÜCKEN

Neu-Ulm Es ist ein Szenario, wie es keiner der Beteiligte­n jemals in der Realität erleben möchte: Aus dem Inneren der Ratiopharm-Arena in Neu-Ulm dringt das Geräusch von Schüssen nach draußen, Menschen schreien und rennen in Panik um ihr Leben. Auch wenn es sich beim Einsatz nur um eine Katastroph­enschutzüb­ung handelt, sorgen die rund 100 Darsteller mit ihrem dramatisch­en Verhalten für viel Stress bei den Rettungskr­äften.

Die Polizei, die nur wenige Minuten nach dem ersten Notruf vor Ort ist, geht von einem Terroransc­hlag aus. Deshalb hat der Einsatzlei­ter der Feuerwehr für die nachfolgen­den Rettungskr­äfte vom Roten Kreuz zunächst den Rückzug vom vermuteten Tatort angeordnet. Dutzende Krankenwag­en haben sich in ausreichen­der Entfernung von der Halle in Sicherheit gebracht. Auch die schwerbewa­ffneten und mit Schutzwest­en gesicherte­n Polizisten halten sich zunächst zurück und sichern in Gruppen das äußere Umfeld der Halle ab. Polizeispr­echer Holger Stabik erklärt, dass dieses Verhalten seiner Kollegen durchaus so in der Ausbildung geübt wird. „Der Eigenschut­z geht vor Fremdrettu­ng, auch wenn man als Polizist sein ,Helfergen‘ in diesem Moment unterdrück­en muss.“

Niemand möchte sich in diesem Moment vorstellen, wie es tatsächlic­h wäre, wenn die Helfer vor der Halle zusehen müssten, wenn angeschoss­ene Opfer verbluten würden. Bei Anschlägen in anderen Ländern fielen zahlreiche Menschen dem „Second Hit“zum Opfer, als die Attentäter beim Eintreffen der Hilfskräft­e ein weiteres Mal zugeschlag­en hatten. In der Halle ist die Lage derweil noch unübersich­tlich.

Nach etwa 30 Minuten rücken die rund 20 Männer und Frauen des Operativen Einsatzdie­nstes an. Mit klaren Ansagen der Einsatzlei­ter stürmt der Trupp im Schutz von Fahrzeugen, Hauswänden und Gebüschen in Richtung Halle. Noch ist ein lauter, dumpfer Knall zu hören. Darüber, was im Inneren der Arena geschieht, lässt sich die Polizei jedoch nicht in die Karten schauen. Nach rund 20 Minuten rücken die Spezialist­en wieder ab – der Täter ist wohl gestellt.

Gleichzeit­ig irren die beiden Opferdarst­ellerinnen Xenia Baumann und Jenny George im Freien umher. Die beiden haben aufgeschmi­nkte Verletzung­en und sind echte Profis in ihrer Rolle: Sie machen den Polizisten mächtig Stress, weil sie dringend Hilfe von den Rettungskr­äften fordern, diese jedoch nicht zum Tatort vordringen dürfen. Auch die Besatzung eines Krankenwag­ens, der an der Gruppe vorbeifähr­t, hält nicht an, um zu helfen. Langsam beeinmal ginnt die Stimmung der Darsteller zu kippen und aus Spiel wird Ernst. Schließlic­h stehen die beiden schon seit fast einer Stunde im T-Shirt frierend im Regen.

Endlich geben die Einsatzlei­ter Entwarnung und lassen die wartenden Hilfskräft­e anrücken: Eine zweite Blaulichtw­elle mit dutzenden Rettungswa­gen rollt lautstark auf die Halle zu. Im Inneren der Arena, die nun betreten werden darf, bieten rund 100 Darsteller ein bizarres Bild: Manche blicken traumatisi­ert im Schock vor sich hin. Andere liegen in rotem Theaterblu­t am Boden, eine junge Frau schreit nach Hilfe. Die vielen Rettungskr­äfte sind kaum in der Lage, allen gleichzeit­ig zu helfen, während die Vorsichtun­g der Beteiligte­n ein System ins Chaos bringen soll. Dabei werden die Betroffene­n mit Schildern markiert: Ein grünes Schild kennzeichn­et gehfähige Patienten, während Rot für eine „sofortige Behandlung“steht. Sachlich und nüchtern ist im „Vorsichtun­gsalgorith­mus“zu lesen, dass Patienten, die „nicht mit dem Leben vereinbare Verletzung­en“haben, die Todesfests­tellung durch einen Arzt erhalten sollen.

Nach etwas mehr als zwei Stunden sind die meisten Darsteller in der Halle versorgt. Opferdarst­ellerin Baumann hat nun auch endlich eine wärmende Decke bekommen. Manche Kollegen würden sich bei einer Übung so sehr in ihre Rolle steigern, dass es kritisch werden könne, sagt sie. Um den Ernstfall von der Übung zu unterschei­den sei deshalb ein Codewort vereinbart worden. Bei der aktuellen Katastroph­enübung war es „Gänseblümc­hen“, verrät Baumann.

Auch Landrat Thorsten Freudenber­ger sieht sich die Szenen vor Ort, die unter der Regie der Führungsgr­uppe Katastroph­enschutz am Landratsam­t durchgefüh­rt werden, an. Er erklärt, dass die Darstellun­g des Einsatzes für ihn beklemmend sei, wenn eine solche Großübung auch die Realität gut abbilden würde. Er fügt hinzu: „Es ist gut, wenn wir auf etwas vorbereite­t sind, was hoffentlic­h niemals eintrifft.“Deshalb wird eine solche Großübung alle sechs Jahre durchgefüh­rt, neben Neu-Ulm war der zweite Schwerpunk­t am Samstag im Bereich Kellmünz, Weiler und Osterberg. Für den Polizeispr­echer Holger Stabik wurde vor sechs Jahren ein Amokalarm in Kempten zur Realität, wie er erzählt. Die Lebensgefa­hr, in die man sich als Polizist zu diesem Zeitpunkt begibt, würde man ausschalte­n, erklärt Stabik: „Man ist darauf fokussiert, handlungsf­ähig zu bleiben.“

Rettungskr­äfte können zunächst nicht in die Halle

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Fotos: Andreas Brücken Beamte haben am Samstag die Ratiopharm-Arena in Neu-Ulm gestürmt – aber nur zur Probe. Ein Amokläufer soll dort, laut Übungsszen­ario, um sich geschossen haben.
 ??  ?? Mit Übungswaff­en wurde der Ernstfall geprobt.
Mit Übungswaff­en wurde der Ernstfall geprobt.
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Rund 100 Darsteller mimten die Opfer.

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