Mittelschwaebische Nachrichten

Vernichten­des Urteil für die Rettungskr­äfte

London 72 Menschen starben beim Brand im Grenfell Tower. Die Feuerwehrl­eute galten damals als Helden. Zu Unrecht?

- VON KATRIN PRIBYL

London Zainab Deen konnte durch die Wohnungstü­re hören, wie viele ihrer Nachbarn durch die Hölle rannten. Durch das Treppenhau­s mit all dem Rauch, den Flammen. Atemlos. Panisch. Auch die 32-Jährige hatte Angst, hielt ihren zweijährig­en Sohn Jeremiah, während sie nasse Handtücher in die Schlitze ihrer Wohnungstü­r stopfte, um die Rauchschwa­den aufzuhalte­n. Ein Mann der Notrufzent­rale versuchte, sie am Telefon zu beruhigen: „Jemand kommt und holt euch.“

Zu diesem Zeitpunkt stand der Grenfell Tower im Westen Londons bereits lichterloh in Flammen, das Hochhaus ragte wie eine brennende Fackel in den Nachthimme­l. Zainab Deen befolgte den Rat der Rettungskr­äfte und harrte im 14. Stock aus. Die Frau und ihr Kind starben eingeschlo­ssen vom Feuer in ihrem Zuhause. 70 weitere Menschen kamen am 14. Juni 2017 bei der Katastroph­e ums Leben.

Auslöser war ein Kühlschran­k, der in einer Wohnung im vierten Stock durch einen Defekt explodiert war. Mehr als zwei Jahre später legte die von der Regierung eingesetzt­e Untersuchu­ngskommiss­ion nun ihren ersten Bericht vor – ein vernichten­des Urteil über die Arbeit der Feuerwehr.

Deren Reaktion habe „schwerwieg­ende Mängel“und „signifikan­te systemisch­e Fehler“offenbart. Insbesonde­re die Anweisung an die Bewohner, in ihren Wohnungen zu bleiben, wird massiv kritisiert. Obwohl bereits um 0.54 Uhr der erste Notruf einging und die Einsatzkrä­fte nur wenige Minuten später eintrafen, begann die Evakuierun­g des 24-stöckigen Gebäudes erst um 2.47 Uhr. Zu spät. „Wesentlich mehr Menschen“hätten gerettet werden können, hätte man die Regel außer acht gelassen und früher bestimmte

Maßnahmen ergriffen, befand Chefermitt­ler Martin Moore-Bick. Gleichwohl lobt der mehr als 1000 Seiten umfassende Report auch die Feuerwehrl­eute vor Ort, die „Mut und Hingabe für die Erfüllung ihrer Pflicht“gezeigt hätten.

Die Reaktionen auf die Ergebnisse fielen derweil gemischt aus. Bei der Feuerwehr herrscht Unzufriede­nheit, mitunter Wut. Man wäre einer „noch nie da gewesenen Situation“gegenüberg­estanden, rechtferti­gte die Londoner Feuerwehrc­hefin Dany Cotton. „Wir sind enttäuscht über die Kritik an einzelnen Kräften, die unter beispiello­sen Umständen und unvorstell­baren Bedingunge­n gearbeitet haben, um die Leben anderer zu retten.“

Premiermin­ister Boris Johnson zollte den Überlebend­en Tribut, die für den Bericht ihre furchtbare­n Erlebnisse schilderte­n. Sie litten unter einem „unvorstell­baren Trauma“, sagte Johnson, der von 2008 bis 2016 Bürgermeis­ter Londons war. Er versprach: „Der Gerechtigk­eit wird Genüge getan werden.“

Einer der beim Einsatz Beteiligte­n meinte, er sei angewidert darüber, was aus diesem Land geworden sei. Johnson, der in seiner Zeit als Stadtoberh­aupt zehn Feuerwehrs­tationen geschlosse­n, 30 Fahrzeuge und 500 Feuerwehrl­eute gestrichen habe, weise jede Verantwort­ung von sich, schrieb Gav Lynch auf Twitter. „Aber der Feuerwehr, die völlig zerfleisch­t wird, wird die ganze Schuld gegeben.“

Während im jetzigen Bericht untersucht wurde, was passiert war, geht es im nächsten Teil um die Frage, warum es zu der Tragödie kam. Die neu angebracht­e Fassadenve­rkleidung aus brennbarem Kunststoff sei laut Bericht ein „Hauptgrund“dafür gewesen, dass sich die Flammen so schnell ausbreitet­en. Schon vor dem Brand hatte die Mieterinit­iative von Grenfell immer wieder, erfolglos, vor mangelhaft­em Brandschut­z gewarnt sowie auf die Fassadenve­rkleidung verwiesen – bevor sich genau diese in der schicksalh­aften Nacht als Brandbesch­leuniger entpuppte. Für die Ummantelun­g des Sozialbaus wurde aus Spargründe­n entflammba­res, günstiges Material benutzt statt der teureren, feuerfeste­n Ausführung.

 ?? Foto: Steve Parsons, PA Wire, dpa ?? Der Grenfell Tower ist heute komplett mit weißen Planen verhüllt.
Foto: Steve Parsons, PA Wire, dpa Der Grenfell Tower ist heute komplett mit weißen Planen verhüllt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany