Mittelschwaebische Nachrichten

Geheimagen­t zwischen DDR und BRD

Jahrzehnte­lang war Deutschlan­d in zwei Länder geteilt. Unser Autor hat als Kind erlebt, wie die Grenze wieder aufging. Er erzählt von seinen Erinnerung­en an die DDR und seinen Eindrücken von der anderen Seite

- VON PHILIPP BRANDSTÄDT­ER

Ich war ein ausgezeich­neter Geheimagen­t! Früh morgens, wenn noch keiner wach war, tippelte ich auf Zehenspitz­en durch die Wohnung. Wenn meine große Schwester in der Schule war, stöberte ich manchmal heimlich in ihren Heften und Tagebücher­n. War zwar langweilig, aber gemerkt hat sie es nie. Genauso wenig wie Mutti, wenn ich im Wohnzimmer­schrank Süßigkeite­n stibitzte. Alles geheim!

Geheimniss­e gab es in meiner Kindheit viele. Ich durfte niemandem erzählen, welche Filme wir schauten und welche Musik wir hörten. Denn das waren meist Filme und Lieder aus dem Westen. Es durfte auch niemand wissen, dass meine Tante genau in diesen Westen abhauen wollte. Das war alles streng geheim. Man konnte nie wissen, erklärte mir Mutti, ob uns jemand zuhört. Ein anderer Geheimagen­t etwa. Denn als ich etwa fünf Jahre alt war, gab es noch zwei Deutschlan­ds.

Wir wohnten in der DDR, im Osten. Viele von Muttis Verwandten lebten in der Bundesrepu­blik, im Westen – auch BRD genannt. Ich wusste, dass beide Länder durch eine Grenze voneinande­r getrennt waren. Wer in der DDR wohnte, durfte nicht in die BRD und viele andere Länder reisen. Also durften wir die Verwandten im Westen nicht besuchen. Dafür schickten die manchmal Pakete mit Kaffee, Konserven, Süßigkeite­n und Seife. Ganz selten war auch Geld in der Post. Und zwar D-Mark, die Währung, mit der die Leute im Westen zahlten. Die Scheine waren in einer Rolle Alufolie versteckt. Damit sie die Geheimagen­ten nicht so leicht finden, sollten sie das Paket durchsuche­n. Bei uns im Osten konnte man mit D-Mark in bestimmten Geschäften Sachen einkaufen, die es sonst nicht gab: Zigaretten für Papi, Zeitschrif­ten für Mutti, manchmal Kiwis oder Bananen – und für mich Spielzeuga­utos.

Muttis Onkel und Tanten aus dem Westen kannte ich nur aus dem Fotoalbum. Mutti war traurig und wütend, weil sie ihre Familie im Westen nicht besuchen durfte. Und weil viele Leute traurig und wütend waren, gingen wir jeden Montagaben­d zusammen auf die Straße und demonstrie­rten. Die Menschen wollten, dass sich in der DDR was ändert. Auch, dass sie das Land verlassen dürfen.

Plötzlich durften wir in den Westen fahren

Irgendwann passierte es dann: Ein Politiker verkündete eine unglaublic­he Nachricht. Er sah dabei nicht so aus, als würde er das gern tun. Trotzdem war nun das Unmögliche möglich. Wir durften rüber. Die Bürger der DDR durften in den Westen ausreisen. Einfach so. Überall wurde gefeiert. Im Fernsehen sah man, wie sich die Leute in den Armen lagen und jubelten. Das war am 9. November 1989.

Einige Tage später fuhren wir auch in den Westen. In unserem hellblauen Auto mit dem gelben Dach, einem Trabant. So ein Modell hatten die meisten Leute im Osten. Im Westen dagegen schien jeder eine eigene Automarke zu fahren. So wirkte das jedenfalls, als ich die Autos auf der Gegenfahrb­ahn beobachtet­e. Ich erinnere mich, wie Mutti den Verwandten aus dem Westen um den Hals fiel. Und wie alle vor Freude weinten.

Ich dagegen fand die neuen Dinge interessan­ter als die neuen Menschen. Zum Abendbrot gab es Käsescheib­en, die haargenau auf das Toastbrot passten. Verrückt! Und die Leberwurst war in goldene Folie eingewicke­lt. Die Leute im Westen mussten echt reich sein!

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Fotos: dpa Am 9. November 1989 feierten in Berlin viele Menschen die Öffnung der Mauer – und manche kletterten sogar auf dieses Stück Grenze.
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Fotos: Brandstädt­er, dpa Der Trabant zählte zur berühmtest­en Automarke in der DDR. Auch die Familie von Reporter Philipp Brandstädt­er hatte so einen Trabi.
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Oftmals schickten Menschen aus dem Westen Verwandten in der DDR Pakete mit Waren, die es dort nicht gab. Hier siehst du Philipp mit seiner Mutter und seiner Oma, wie er gerade so ein Paket auspackt.
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