Mittelschwaebische Nachrichten
Geheimagent zwischen DDR und BRD
Jahrzehntelang war Deutschland in zwei Länder geteilt. Unser Autor hat als Kind erlebt, wie die Grenze wieder aufging. Er erzählt von seinen Erinnerungen an die DDR und seinen Eindrücken von der anderen Seite
Ich war ein ausgezeichneter Geheimagent! Früh morgens, wenn noch keiner wach war, tippelte ich auf Zehenspitzen durch die Wohnung. Wenn meine große Schwester in der Schule war, stöberte ich manchmal heimlich in ihren Heften und Tagebüchern. War zwar langweilig, aber gemerkt hat sie es nie. Genauso wenig wie Mutti, wenn ich im Wohnzimmerschrank Süßigkeiten stibitzte. Alles geheim!
Geheimnisse gab es in meiner Kindheit viele. Ich durfte niemandem erzählen, welche Filme wir schauten und welche Musik wir hörten. Denn das waren meist Filme und Lieder aus dem Westen. Es durfte auch niemand wissen, dass meine Tante genau in diesen Westen abhauen wollte. Das war alles streng geheim. Man konnte nie wissen, erklärte mir Mutti, ob uns jemand zuhört. Ein anderer Geheimagent etwa. Denn als ich etwa fünf Jahre alt war, gab es noch zwei Deutschlands.
Wir wohnten in der DDR, im Osten. Viele von Muttis Verwandten lebten in der Bundesrepublik, im Westen – auch BRD genannt. Ich wusste, dass beide Länder durch eine Grenze voneinander getrennt waren. Wer in der DDR wohnte, durfte nicht in die BRD und viele andere Länder reisen. Also durften wir die Verwandten im Westen nicht besuchen. Dafür schickten die manchmal Pakete mit Kaffee, Konserven, Süßigkeiten und Seife. Ganz selten war auch Geld in der Post. Und zwar D-Mark, die Währung, mit der die Leute im Westen zahlten. Die Scheine waren in einer Rolle Alufolie versteckt. Damit sie die Geheimagenten nicht so leicht finden, sollten sie das Paket durchsuchen. Bei uns im Osten konnte man mit D-Mark in bestimmten Geschäften Sachen einkaufen, die es sonst nicht gab: Zigaretten für Papi, Zeitschriften für Mutti, manchmal Kiwis oder Bananen – und für mich Spielzeugautos.
Muttis Onkel und Tanten aus dem Westen kannte ich nur aus dem Fotoalbum. Mutti war traurig und wütend, weil sie ihre Familie im Westen nicht besuchen durfte. Und weil viele Leute traurig und wütend waren, gingen wir jeden Montagabend zusammen auf die Straße und demonstrierten. Die Menschen wollten, dass sich in der DDR was ändert. Auch, dass sie das Land verlassen dürfen.
Plötzlich durften wir in den Westen fahren
Irgendwann passierte es dann: Ein Politiker verkündete eine unglaubliche Nachricht. Er sah dabei nicht so aus, als würde er das gern tun. Trotzdem war nun das Unmögliche möglich. Wir durften rüber. Die Bürger der DDR durften in den Westen ausreisen. Einfach so. Überall wurde gefeiert. Im Fernsehen sah man, wie sich die Leute in den Armen lagen und jubelten. Das war am 9. November 1989.
Einige Tage später fuhren wir auch in den Westen. In unserem hellblauen Auto mit dem gelben Dach, einem Trabant. So ein Modell hatten die meisten Leute im Osten. Im Westen dagegen schien jeder eine eigene Automarke zu fahren. So wirkte das jedenfalls, als ich die Autos auf der Gegenfahrbahn beobachtete. Ich erinnere mich, wie Mutti den Verwandten aus dem Westen um den Hals fiel. Und wie alle vor Freude weinten.
Ich dagegen fand die neuen Dinge interessanter als die neuen Menschen. Zum Abendbrot gab es Käsescheiben, die haargenau auf das Toastbrot passten. Verrückt! Und die Leberwurst war in goldene Folie eingewickelt. Die Leute im Westen mussten echt reich sein!