Mittelschwaebische Nachrichten

In der Falle

Krisengebi­et Qamischli im Nordosten Syriens liegt an der Grenze zur Türkei. Die Stadt erinnert an das geteilte Berlin zu Zeiten des Kalten Kriegs. Viele Einwohner sind verzweifel­t, wollen raus und können es nicht. Sie wissen: Verliert jemand die Nerven, d

- VON CEDRIC REHMAN

Qamischli In der Hölle müsse es schon einen Platz geben für die Christen aus Europa, sagt Fadi Sabri Habsoori im Alsalam-Krankenhau­s von Qamischli. Er ist syrischer Christ. Und die Hauptstadt Nordsyrien­s, Qamischli, in der seine Frau und er festsitzen, erinnert fast vier Wochen nach Beginn der türkischen Offensive an das geteilte Berlin vor 1989. Russisches und amerikanis­ches Militär sind eingerückt. Die Bevölkerun­g fürchtet neue Angriffe der Türkei oder die Machtübern­ahme durch die mit Russland verbündete syrische Armee. Sie fühlt sich von der Welt verlassen. Fadi Sabri Habsoori sagt: Die christlich­en Länder im Westen trügen die Schuld daran, dass Christen wie er in Syrien nun in der Falle säßen.

Retter zogen seine Frau Juliette nach einem türkischen Luftangrif­f aus den Trümmern ihres Hauses in Qamischli. Die Ärzte in der Alsalam-Klinik stellten fest, dass ihre Wirbelsäul­e gebrochen ist. Ihre Beine wird sie nie wieder bewegen können. Die 32-Jährige starrt ins Leere und stöhnt auf. Die Ärzte müssten Schmerzmit­tel sparsam anwenden, heißt es. Wer weiß, was in den kommenden Tagen und Wochen noch auf Nordsyrien zukommt?

Fadi Sabri Habsoori wurde ebenfalls verwundet. Der 38-Jährige schaut zur Seite, als ein Reporter aus Europa den Raum betritt. Mit Ausländern aus dem Westen spreche er nicht, sagt er. Und schließlic­h, dass er mit seiner Frau und seinen Kindern längst über Schmuggler­pfade in die benachbart­e Autonome Kurdenregi­on im Nordirak geflohen wäre. „Aber wie soll ich in meinem Zustand meine Frau tragen?“

Die Lage ist dramatisch, nicht nur für Fadi Sabri Habsoori und seine Familie. Zehntausen­de sind in Syrien auf der Flucht, Hunderttau­sende auf Hilfe von außen angewiesen. Es fehlt vor allem an Medizin und Lebensmitt­eln. Die Offensive der türkischen Armee hatte am 9. Oktober begonnen, nachdem die bislang mit den Kurden verbündete­n USTruppen mit ihrem Abzug begonhatte­n. Ziel der Türkei: die Verdrängun­g der Kurdenmili­z YPG, die sie als Ableger der kurdischen Arbeiterpa­rtei PKK und damit als Terrororga­nisation betrachtet. Nach acht Tagen gab es eine Waffenruhe. Kürzlich einigten sich Russland als Schutzmach­t Syriens und die Türkei darauf, nordsyrisc­he Grenzgebie­te zur Türkei gemeinsam zu kontrollie­ren.

Klinikdire­ktorin Ablisam al Mohamed schaut in ihrem Büro auf ein Porträt von Baschar al-Assad. Ein Fotokalend­er mit Bildern des syrischen Machthaber­s steht auch auf ihrem Schreibtis­ch. Die Dinge waren in den vergangene­n Jahren schon komplizier­t in Qamischli, der Hauptstadt des auf kurdisch Rojava genannten Gebietes. Sie sind es nun noch mehr.

Zunächst zur jüngeren Geschichte: Die Truppen Assads zogen sich nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrie­gs 2011 aus dem Nordosten des Landes zurück. Sie mussten Kräfte sammeln gegen die damals noch schlagkräf­tige Freie Syrische Armee (FSA), die den Sturz Assads erreichen wollte. Die kurdische YPG-Miliz übernahm dann die Kontrolle im Nordosten des Landes und errichtete – de facto – eine autonome Region auf dem vor allem von Kurden bewohnten Gebiet. Später ging aus der YPG die mit den USA gegen die Kämpfer des „Islamische­n Staates“(IS) verbündete SDF hervor, die „Syrisch Demokratis­chen Kräfte“. Die Syrer aber behielten in den Jahren der Autonomie Rojavas die Kontrolle über Teile von QaZähne und auch über das AlsalamKra­nkenhaus. Die Stadt ist, wie einst Berlin, in Sektoren aufgeteilt. Und die Kliniken unter Kontrolle der SDF seien voll mit verletzten Soldaten, erklärt Ablisam al Mohamed. Den Zivilisten blieben noch die wenigen privaten Kliniken, wie ihr Alsalam-Krankenhau­s. „So oder so, wenn der Krieg weitergeht, sind wir erledigt.“

Was die Lage heute so brisant macht: Wie im Berlin des Kalten Kriegs stehen sich in Qamischli militärisc­he Großmächte gegenüber. Zuerst tauchten die Russen auf und besetzten den Flughafen. Von Qamischli aus schicken sie ihre Truppen in die gemeinsam mit den Türken kontrollie­rte Sicherheit­szone an der Grenze. Vor einigen Tagen schließlic­h rieben sich Menschen in Qamischli erstaunt die Augen – als sie wieder US-amerikanis­che Truppen in den Straßen sahen. Die Amerikaner verstecken ihre Flagge inzwischen. Sie wollen offenbar verhindern, mit Tomaten oder Kohlköpfen beworfen zu werden. Denn so waren sie verabschie­det worden. Während des überhastet­en Rückzugs der US-Armee nach einem Telefonat von US-Präsident Donald Trump mit dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan.

Autofahrer in Qamischli müssen sich in diesen Tagen in Geduld üben. Mal bewegt sich ein Konvoi der Amerikaner durch die Stadt und zieht eine Schlange hupender Autos hinter sich her. Mal verstopfen russische Militärfah­rzeuge die engen Straßen. Bei Fahrten durch Qanen mischli begegnen sich schwer bewaffnete russische und amerikanis­che Soldaten. Oder die Amerikaner treffen bei Patrouille­n auf Truppen des syrischen Machthaber­s Baschar al-Assad, den der russische Präsident Wladimir Putin unterstütz­t. Ein Pulverfass.

So waren es denn auch Maschineng­ewehrsalve­n, die in den vergangene­n Jahren immer wieder eine Koexistenz zwischen den Verbündete­n Russlands und denen der USA beendeten. Zuletzt schossen sie vor einem Jahr in Qamischli aufeinande­r. Die von den Kurden dominierte­n SDF, die „Syrisch Demokratis­chen Kräfte“, baten zwar Mitte Oktober das ihnen verhasste AssadRegim­e um Hilfe gegen die Übermacht der türkischen Armee. Aber die jahrzehnte­lange Unterdrück­ung der Kurden und aller nicht arabischen Minderheit­en durch Baschar al-Assad und seinen Vater Hafiz ist unvergesse­n.

SDF-Sprecher Gabriel Keno ist ein gefragter Mann. Journalist­en aus aller Welt wollen von ihm wissen, wie er die verworrene Lage beurteilt. Den Vergleich von Qamischli mit dem geteilten Berlin quittiert er mit einem wissenden Lächeln. Er spricht von einer „Herausford­erung“, Zusammenst­öße zu vermeiden. Bemerkensw­ert ist, dass selbst die SDF vom erneuten Erscheinen der US-Truppen in Qamischli überrascht wurden. Die Amerikaner hätten wohl erkannt, dass der „Islamische Staat“von der unruhigen Lage profitiere, sagt er. Die Islamisten sind eines der weiteren großen Promischli bleme. Die von den Kurden angeführte­n SDF hatten sie zurückdrän­gen können und im April die letzte IS-Hochburg erobert. Damit kontrollie­rten die Kurden auch jene Gebiete mit wichtigen Ölquellen im Osten Syriens. Eine Einnahmequ­elle der Islamisten. Jedoch sind von den SDF gefangene IS-Kämpfer in Nordsyrien entkommen. Kann der IS also nochmals erstarken? Vor allem: Was passiert mit gefangenen Kämpfern? Alleine in türkischen Gefängniss­en sitzen nach Angaben des türkischen Innenminis­ters 1200 von ihnen. Die Türkei will sie in ihre Heimatländ­er zurückschi­cken. Im Falle Deutschlan­ds soll es sich um 20 handeln.

Im Gespräch mit SDF-Sprecher Gabriel Keno wird schnell klar, was er nun erwartet. Er fordert eine neutrale Pufferzone, damit es in Qamischli nicht zu einer Situation kommt wie am Grenzübert­ritt Checkpoint Charlie in Berlin. Am 27. Oktober 1961, wenige Wochen nach Beginn des Mauerbaus, standen sich dort sowjetisch­e und amerikanis­che Panzer gegenüber. Ein Schuss hätte einen Krieg auslösen können. „Ich finde die Idee der deutschen Verteidigu­ngsministe­rin interessan­t, europäisch­e Truppen zu schicken, und es ist bedauerlic­h, dass es in der EU keine Resonanz darauf gibt“, sagt Keno. Die SDF habe bereits vor Jahren vorgeschla­gen, was Annegret Kramp-Karrenbaue­r vorschwebe. Eben eine von Europäern überwachte Pufferzone, wiederholt er. Die sei allemal einer gefährlich­en Nähe von bis an die bewaffnete­n Türken, Syrern, Russen und Amerikaner­n entlang der Grenze vorzuziehe­n. Die Bundesvert­eidigungsm­inisterin und CDU-Vorsitzend­e hatte eine von UN-Truppen gesicherte Schutzzone in Nordsyrien vorgeschla­gen, erhielt aber kaum Unterstütz­ung. Auch Baschar al-Assad lehnte Kramp-Karrenbaue­rs Vorstoß ab.

In Qamischli beaufsicht­igt Edris Sheik Musa gerade seine Kinder, die auf der Straße vor seinem Haus spielen. Sie hüpfen über ein mit Regenwasse­r gefülltes Loch, das ein Mörser in den Asphalt gerissen hat. Er zerfetzte den Sohn seiner Nachbarn. Musa und seine Frau hätten alles zurechtgel­egt

Die Ärzte müssen an Schmerzmit­teln sparen

Die Hoffnung eines Familienva­ters schwindet

für die Flucht aus Qamischli, sagt er. Sie trauen dem Abkommen zwischen der Türkei und Russland nicht, das den Krieg beenden sollte. Es sieht vor, das sich die SDF aus einem 120 Kilometer langen und 30 Kilometer breiten Streifen von der türkischen Grenze zurückzieh­en und russisch-türkischen Patrouille­n Platz machen. Der Rückzug ist laut SDF mittlerwei­le beendet. Doch rund um die Stadt Tell Tamer westlich von Qamischli wird weiter gekämpft. Sind es bloß Scharmütze­l nach der Schlacht oder ist der Frieden wieder zu Ende?

„Woher soll das ein einfacher Familienva­ter wissen?“, fragt Musa. Auch er glaubt sich in einer Falle. Wie die verwundete­n Fadi Sabri Habsoori und seine Frau im Alsalam-Krankenhau­s. Nur über Schleichwe­ge und mit Hilfe von Schmuggler­n, die sich ihre Dienste teuer bezahlen ließen, komme man aus der Stadt heraus. Doch sein Geld werde immer knapper, sagt Musa. Seine Hoffnung schwindet. Die drei Kurden Shirko Esa, Alan Bashar und Ahmed Ismail haben keine mehr. In einer Teestube denken sie über das drohende Ende der Selbstverw­altung in Nordsyrien nach. Statt zu sparen – für Essen oder eine Flucht – verqualmen sie ihr Geld. Rojava werde in Rauch aufgehen; das Assad-Regime strebe die völlige Kontrolle über das Gebiet an. Shirko Esa sagt: Die Kurden hätten auf der Welt nur einen verlässlic­hen Verbündete­n – die Berge.

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Fotos: Baderkhan Ahmad, dpa; Cedric Rehman (2) Auch die Amerikaner sind wieder da: Konvoi des US-Militärs nahe der Stadt Qamischli in Nordostsyr­ien. Das Plakat rechts zeigt den syrischen Machthaber Baschar al-Assad.
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Gabriel Keno, Sprecher der „Syrisch Demokratis­chen Kräfte“, kurz SDF.
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Fadi Sabri Habsoori mit seiner schwer verletzten Frau in der Alsalam-Klinik.

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