Mittelschwaebische Nachrichten

Digitaler Fluch oder Segen?

Frankreich Neue App will den Kontakt der Bürger zu Behörden vereinfach­en. Sie sollen sich per Gesichtser­kennung identifizi­eren. Datenschüt­zer warnen vor einem Schritt zum Überwachun­gsstaat

- VON BIRGIT HOLZER

Paris Einen neuen Reisepass oder Personalau­sweis online bestellen, ohne ins Gemeindebü­ro fahren und Schlange stehen zu müssen? Nur noch ein einziges Konto und Passwort brauchen, um die Steuererkl­ärung zu machen, eine Sozialwohn­ung oder seinen Rentenbesc­heid online zu beantragen?

Den einfachen Zugang per Handy zu über 500 Behördendi­ensten verspricht die Software Alicem, die die französisc­he Sicherheit­sbehörde ATNS, die zum Innenminis­terium gehört, gerade ausarbeite­n lässt. Sie soll ihren Nutzern in der Zukunft ermögliche­n, im Kontakt mit den staatliche­n Stellen ihre „digitale Identität“nachzuweis­en.

Doch schon jetzt stößt das Programm auf Misstrauen: Welche Daten werden wie lange und für welche Zwecke gesammelt? Datenschüt­zer warnen vor missbräuch­lichem Umgang mit sensiblen Informatio­nen, deren Diebstahl durch Hacker oder gar vor den Anfängen eines Überwachun­gsstaates. Denn die App Alicem – eine Abkürzung für „Zertifizie­rte Online-Authentifi­zierung auf dem Mobiltelef­on“(„Authentifi­cation en ligne certifiée sur mobile“) – soll über Gesichtser­kennung funktionie­ren. Seit Juni läuft ein Test mit mehreren tausenden Freiwillig­en. Wenn das System dann voraussich­tlich im nächsten Jahr startet, wird Frankreich das erste EU-Land sein, das die neue Technologi­e in diesem Ausmaß anwendet.

Das Innenminis­terium in Paris geht davon aus, dass zunächst rund zehn Millionen Franzosen, die einen biometrisc­hen Ausweis, einen Internet-Zugang und ein an die Technik angepasste­s Smartphone besitzen, Alicem nutzen könnten. Den persönlich­en Gang zur Behörde ersetzt dies nicht vollständi­g: Noch wird Frankreich keine rein digital verwaltete Gesellscha­ft. Um das „Vorzeichen einer Politik der digitalen Identität“handele es sich dabei aber durchaus, ließ Innenminis­ter Christophe Castaner wissen.

Die Gesichtser­kennung ist demnach lediglich notwendig, um den Nutzer bei der ersten Anmeldung auf seinem Smartphone mithilfe von Fotos und Videoaufna­hmen eindeutig zu identifizi­eren. Laut ATNS werden diese sofort wieder gelöscht, während andere persönlich­e Informatio­nen wie Name, Adresse, Geburtstag und -ort sowie Augenfarbe und Größe gespeicher­t bleiben.

Dies ist einer der Kritikpunk­te. „Jedes System ist hackbar“, sagt der Spezialist für Netzsicher­heit, Baptiste Robert. ATNS-Chef Jérôme Létier räumt ein Restrisiko ein: „Wir gehen diese Mission ohne Naivität an. Uns ist klar, dass wir von Anfang an die Sicherheit von Alicem garantiere­n müssen.“

Die Organisati­on für Bürgerrech­te im Internet La Quadrature du Net hat Klage eingereich­t. „Die Regierung will die Leute zwingen, die Gesichtser­kennung zu nutzen. Sie übergeht die Wichtigkei­t eines klaren Einverstän­dnisses und der Wahlfreihe­it“, argumentie­rt der Anwalt der Organisati­on, Martin Drago. Wer die Gesichtser­kennung ablehne, könne Alicem nicht verwenden. Man befürchte zudem die Bedrohung der Anonymität im öffentlich­en Raum und das Ausspionie­ren von Personen durch Überwachun­gskameras: Wer garantiere, dass nicht irgendwann die Polizei die entspreche­nden Technologi­en nutze, um beispielsw­eise Demonstran­ten zu identifizi­eren?

Um diese im Falle eines Anschlags oder anderer Verbrechen anwenden zu können, ließ der Bürgermeis­ter von Nizza, Christian Estrosi, tatsächlic­h beim diesjährig­en Karneval im Februar auf einem klar ausgewiese­nen Raum und mit 1000 Freiwillig­en Gesichtser­kennung mittels Videokamer­as testen.

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Gesichtser­kennung könnte in Frankreich Standard im Kontakt mit Behörden werden. Symbolfoto: Andrej Sokolo, dpa

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