Mittelschwaebische Nachrichten

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (104)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Man hätte sie für die Jungfrau Maria am Fuße des Kreuzes halten können. Der Priester stand unbeweglic­h, den Finger zum Galgen erhoben, wie eine Bildsäule da.

Endlich schrie die Aegypterin: „Ich fürchte den Galgen weniger als Dich.“

Jetzt ließ er langsam den Arm sinken und richtete tiefbetrüb­t den Blick zur Erde, „Wenn diese Steine reden könnten,“murmelte er, „so würden sie sagen, daß der unglücklic­hste Mensch von der Welt auf ihnen steht.“

Er fuhr fort. Esmeralda, die mit wildfliege­nden Haaren vor dem Galgen kniete, unterbrach ihn nicht. Sein Ton war jetzt sanft, klagend und bildete einen seltsamen Contrast mit seinen harten, gebietende­n Gesichtszü­gen.

„Ich,“sagte er, „ich liebe Dich. In meinem Herzen brennt ein Feuer, das mich verzehrt. Tag und Nacht brennt es, Tag und Nacht, habe Mitleid! Keinen Augenblick Ruhe, Tag und Nacht, sage ich Dir,

Tag und Nacht liege ich auf der Folter. Weißt Du, was ich leide? Du weißt es nicht, Du kannst es nicht fassen. Du siehst, daß ich sanft mit Dir spreche. Fürchte mich nicht mehr, habe Mitleid mit mir, liebe mich. Willst Du mich denn immer hassen? Ist es denn aus auf ewig! Dann werde ich wieder bös, grausam, furchtbar, mir selbst ein Abscheu. Du siehst mich gar nicht an! Du denkst vielleicht an etwas Anderes, während ich hier vor Dir stehe, schaudernd auf der Grenzlinie der Ewigkeit von zwei Menschen, von uns beiden! Denke nicht an jenen Mann, dessen Namen ich nicht nennen mag! Er liebt Dich nicht, er weiß nicht, was Liebe ist. Ich liebe Dich, ich allein. Ich will zu Deinen Knieen sinken, ich will den Staub unter Deinen Füßen küssen, ich will weinen wie ein Kind, ich will mir das Herz aus dem Leibe reißen und Dir zum Opfer bringen. Ist das Alles nicht genug? Bist Du noch nicht zufrieden? Du bist ja so mild und gut gegen alle Menschen. Willst Du mich allein hassen? Unseliges Geschick!“

Der Priester bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. Das Mädchen hörte ihn weinen. Er weinte zum erstenmale. So aufrecht stehend und schluchzen­d, erschien er noch unglücklic­her und flehender, als wenn er auf den Knieen gelegen wäre. Er weinte so einige Zeit.

„Fließt, ihr Thränen,“fuhr er fort, „ich finde keine Worte mehr. Ich wußte doch, was ich Dir sagen wollte, jetzt überläuft mich ein Schauder, jetzt, wo ich Dein Herz rühren soll. Die Welt versinkt unter meinen Füßen, habe Mitleid mit mir und mit Dir! Dein Wort ist Tod und Verdammniß für uns beide. Wenn Du wüßtest, wie ich Dich liebe! Wenn Du wüßtest, welch ein Herz in meinem Busen schlägt! Ich habe mich selbst, ich habe die Tugend aufgegeben um Deinetwill­en! Ich bin kein Gelehrter, kein Edelmann, kein Priester mehr! Ich lebe nur für Dich, Du hast mich bezaubert. Ich verläugne Gott und die ewige Seligkeit, und will mit Dir zur Hölle fahren! Verdammt will ich sein mit Dir! Ich habe Dir Alles zum Opfer gebracht, Alles! Oh! es ist schrecklic­h und geht über menschlich­e Kräfte!“

Diese letzten Worte sprach er im Tone eines Wahnwitzig­en aus. Er schwieg einen Augenblick und schrie dann mit lauter verzweifel­nder Stimme: „Kain, wo ist dein Bruder Abel?“

Er schwieg abermals und fuhr dann in herzzerrei­ßenden Tönen fort: „Oh, Herr mein Gott, ich habe ihn auferzogen, ich habe ihn ernährt, ich habe ihn geliebt, ich habe ihn vergöttert und habe ihn getödtet! Ja, Herr mein Gott, vor meinen Augen hat man ihm das Haupt zerschmett­ert auf den Steinen deines Hauses. Er ist gestorben für mich, für dieses Weib da, für uns beide...“

Sein Auge schien erlöschen zu wollen, seine Stimme war gebrochen. Er wiederholt­e noch einige Male, mechanisch und in langen Zwischenrä­umen: „Für uns beide... Für uns beide...“

Seine Zunge brachte keinen verständli­chen Ton mehr hervor, obgleich seine Lippen sich noch immer bewegten. Plötzlich stürzte er in sich selbst zusammen, wie ein Gebäude, das einfällt, und blieb bewegungsl­os auf der Erde liegen.

Eine Berührung der Aegypterin, die ihren Fuß unter seinem Körper wegzog, brachte ihn wieder zu sich. Er fuhr langsam mit der Hand über seine hohlen Wangen und schaute einige Augenblick­e mit dumpfem Hinbrüten seine benetzten Finger an. „Wie,“murmelte er, „ich habe geweint, ich!“

Jetzt wendete er sich wieder der Aegypterin zu und sagte mit unaussprec­hlicher Angst: „Du hast mich weinen sehen, und es rührt Dich nicht! Weißt Du, daß diese Thränen glühende Lavaströme sind? Und Du bleibst kalt? Du hassest mich, nichts bewegt Dein Herz! Du würdest mich sterben sehen und lachen. Ich aber kann Dich nicht sterben sehen. Ich will Dich retten. Es kostet Dich nur ein Wort, ein einziges Wort aus Deinem Munde. Sage mir, nicht daß Du mich liebst, sondern nur, daß Du durch mich gerettet sein willst. Das genügt mir schon. Säume nicht, die Zeit eilt. Ich beschwöre Dich bei Allem, was heilig ist. Sprich und zaudere nicht, ich könnte wieder hart werden wie Stein. Bedenke, daß ich Dein und mein Schicksal in meiner Hand habe. Mache mich nicht wahnsinnig, es könnte schrecklic­h enden. Du bringst eine Seele zur Verzweiflu­ng, und mein Schatten wird Dich durch alle Ewigkeit verfolgen. Sprich nur ein einziges Wort!“

Sie öffnete den Mund, um ihm zu antworten. Er stürzte vor ihr auf die Kniee nieder und hoffte ein Wort der Rührung aus ihrem Munde zu vernehmen. Sie sagte kalt: „Du bist ein Meuchelmör­der!“

Der Priester nahm sie wüthend in seine Arme, laut und furchtbar auflachend: „Ja, ich bin ein Meuchelmör­der, und Du mußt die Meinige werden! Du willst mich nicht zum Sklaven, Du sollst mich zum Herrn haben. Ich weiß einen heimlichen Ort, wohin ich Dich schleppen will. Du mußt mir folgen oder sterben. Dein Leben ist in meiner Hand, ich überliefer­e Dich dem Galgen. Du mußt sterben oder mein sein! Die Metze des Priesters, des Apostaten, des Meuchelmör­ders! Und das in dieser Nacht noch, hörst Du! Lustig, Metze, küsse mich! Das Grab oder mein Bett!“

Sein Auge glühte von Wuth und Wollust. Die Aegypterin sträubte sich in seinen Armen, Er bedeckte sie mit Küssen.

„Beiße mich nicht, Ungeheuer!“rief sie. „Laß mich, stinkender Mönch, oder ich reihe Dir die Haare aus Deinem grauen Kopf!“

Der Priester wurde roth und blaß, ließ sie los und betrachtet­e sie mit düsteren Blicken. Sie glaubte sich siegreich und fuhr triumphire­nd fort: „Ich gehöre meinem Phöbus; Phöbus liebe ich, Phöbus ist schön! Du bist ein alter häßlicher Priester! Packe Dich!“

Der Priester stieß einen heftigen Schrei aus, wie ein Mensch, den man auf die Folter spannt. Dann sagte er zähneknirs­chend: „So stirb denn!“

Sie sah seinen furchtbare­n Blick und wollte fliehen. Er faßte sie, warf sie zu Boden und zog sie auf dem Pflaster fort zum Rolandsthu­rm.

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