Mittelschwaebische Nachrichten
Der Tag, an dem die Mauer fiel
Zeitgeschichte Der Krumbacher Kinobetreiber Wolfgang Christ wollte sich ganz genau ansehen, was sich im November 1989 in Berlin zutrug. Aus einem spontanen Entschluss wurde die Reise seines Lebens
Günzburg Es gibt Daten, die im Hirn eine Ewigkeitsgarantie haben – als ob sie eingebrannt wären. Die Nacht der Mondlandung vom 20. auf den 21. Juli 1969 sollen beispielsweise bis zu 600 Millionen Menschen vor dem Fernseher verbracht haben. Der 11. September 2001 ist so ein Datum, als entführte Flugzeuge in New York in das World Trade Center gesteuert wurden. Der 9. November ist ein Schicksalsdatum der Deutschen. Das Jahr 1989 ist positiv besetzt. Denn da kamen an jenem 9. November die Menschen des geteilten Deutschlands wieder zusammen. Keine Mauer konnte sie mehr aufhalten.
Wolfgang Christ, der Kinos in Günzburg und Krumbach betreibt, wird diesen Tag vor nun 30 Jahren nie wieder vergessen. Er begnügte sich nicht damit, über die Bilder zu staunen, die in den Nachrichtensendungen liefen. Er und sein Freund Andreas Klee haben damals nach einem schweißtreibenden Abend im Thannhauser Sportstudio Impuls noch ein kühles Getränk zu sich genommen – und eben Unglaubliches im TV gesehen. „Es war ein Donnerstag“, erzählt Christ. „Im Fernsehen lief die Schabowski-Meldung.“SED-Politbüromitglied Günter Schabowski hatte – ohne es wirklich zu wissen – in einer Pressekonferenz auf Nachfrage eines Journalisten gesagt, dass DDR-Bürger künftig problemlos ins Ausland reisen könnten. Die Regelung gelte, wie er auf Nachfrage eines Journalisten sagte, unverzüglich. Er hatte durch eine Kommunikationspanne das größte Versehen in der DDRGeschichte ausgelöst und eine Lawine ins Rollen gebracht. Erste Fernsehteams hatten sich an den Grenzübergängen und in der Nähe des Brandenburger Tors postiert. Das sahen Christ und Klee – und schnell war ihr Entschluss gefasst: „Um 21.30 Uhr waren wir an diesem 9. November auf dem Weg nach Berlin.“Der deutsch-deutsche Grenzübergang in Hof wirkte auf den 27-jährigen Christ gespenstisch. Hier war noch niemand von der Aufbruchstimmung in Berlin erfasst, von irgendwelchen Reiseerleichterungen war nichts zu sehen und zu spüren. Über die Transitroute ging es nach West-Berlin. In der Morgendämmerung erreichte das Duo aus dem Landkreis Günzburg die Stadt. Der erste Weg führte ans Brandenburger Tor. Und da standen am 10. November nicht mehr WestBerliner auf der Mauer, wie es in den Nachrichtensendungen gezeigt worden war. Den „antiimperialistischen Schutzwall“der DDR hatten inzwischen Soldaten besetzt. Christ kann sich an ein grenzüberschreitendes Frage-undAntwort-Spiel zwischen Bundesbürgern auf der Westseite der Mauer und den Soldaten auf der Mauerkrone erinnern. Ob sie Schießbefehl hätten, wollte einer wissen. „Nein“, lautete die Antwort. Sichtbar hatten die Polizisten auch nichts bei sich. Unter der Kleidung aber haben sie Handfeuerwaffen getragen, sagt Christ.
Auch die West-Berliner Polizei versuchte, die Menschen davon abzuhalten, auf die Mauer zu klettern. Sperrgitter waren – wie bei einem Konzert – aufgebaut, um die Menschen auf Abstand zu halten; „damit nichts eskaliert“. Der Geschäftsmann sagt im Rückblick: „Damals waren wir uns der Tragweite der Ereignisse nicht bewusst. Noch war uns nicht klar, auf welcher Reise wir uns tatsächlich befanden.“Mit der Räumung des Platzes wurde gedroht und mit dem Einsatz von Wasserwerfern. „Dazu kam es aber nie. Die West-Berliner Polizei hat gemerkt, dass es keine Chance gab, die Menschen dazu zu bewegen, den Platz zu verlassen.“Christ bemerkte nichts von einer aggressiven oder bedrohlichen Situation. Er spürte vielmehr eine „leichte Volksfeststimmung“.
Als durchsickerte, dass an den Grenzübergängen die Schlagbäume hochgehen sollten, suchten die beiden einen der Übergänge auf, „um zu sehen, was da passiert“. Die Freunde kletterten auf einen Zaun und erkannten von dieser Warte aus, was auf der anderen Seite der Grenze geschah. Sie blickten auf Menschentrauben und eine nicht enden wollende Schlange von Trabbis. Sie sahen den ZDF-Chefreporter Alexander Niemetz, wie er wartete; wartete wie sie auf etwas, das in greifbarer zeitlicher Nähe lag. Eineinhalb Stunden später war es so weit: Grenzpolizisten öffneten kommentarlos den Schlagbaum. „Wenn ich davon erzähle, bekomme ich heute noch Gänsehaut“, sagt Wolfgang Christ. Menschen, die sich nie zuvor gesehen hatten, lagen sich in den Armen. Freude, Tränen, Jubelgeschrei. „Das war mit Sicherheit eines der beeindruckendsten Erlebnisse meines bisherigen Lebens. In dem Augenblick war uns bewusst: Da ist etwas Großartiges passiert, das nicht mehr umkehrbar ist.“Am 11. November ging es nach wenigen Stunden Schlaf im Auto auf einem Parkplatz vor Berlin nach Hause. Dort angekommen haben Christ und Klee „zwei Tage fast durchgeschlafen“. Erschöpft waren sie. Und glücklich, dort gewesen zu sein, wo Geschichte geschrieben wurde.