Mittelschwaebische Nachrichten
Wer definiert, was normal ist und was irre?
Theater „Neurosige Zeiten“, das Jubiläumsstück der Bühne 99 in Jettingen, ist ausgesprochen komisch. Doch hinter der Komödie steckt auch eine ernste Geschichte
Jettingen Die Komödie ist heiter. Die Geschichte dahinter ist ernst. Denn in „Neurosige Zeiten“von Winnie Abel geht es letztlich um die Frage: Könnte es sein, dass häufig die Falschen in der Psychiatrie landen? Dass nicht die etwas Absonderlichen, sondern die Normalen mit ihrer Fassade des schönen Scheins das Problem sind? Wer definiert, was normal und was irre ist? Die Grenzen können rasch verwischen, wie die Verwechslungskomödie zeigt. Ausgesucht hat sich das Stück die Bühne 99 in Jettingen zu ihrem 20-jährigen Bestehen. In der ausverkauften Turn- und Festhalle wurde am Samstag ein Theaterabend geboten, der auch mit seinem Drumherum ein wenig aus dem „normalen“Rahmen fiel.
Der Inhalt des Stückes mutet auf den ersten Blick skurril an. Agnes Adolon, Tochter einer reichen Hoteldynastie, ist in einer psychiatrischen Wohngruppe untergebracht. Die Diagnose: Sexsucht. Mit ihr leben der neurotische Hans, die wahnhaft in den österreichischen Schlagerstar Rainhard Ambrosius verliebte Marianne, die abgedrehte Malerin Desiree und der menschenscheue Willi.
Panik bricht aus, als Cecile Adolon überraschend ihren Besuch ankündigt. Denn die Mutter geht davon aus, dass ihre Tochter standesgemäß in einer Villa residiert. Um den Schein zu wahren, müssen die Verrückten so tun, als seien sie normal. Dagegen entpuppen sich die Normalen zunehmend als neurotisch. Das Chaos wird nach und nach perfekt.
Unter der Regie von Ulli und Martin Weng, die auch auf der Bühne stehen, bietet das Ensemble der Bühne 99 eine schauspielerisch bemerkenswerte Leistung. In ihren jeweiligen Rollen überzeugen Anja Häberle, Christoph Bell, Marion Löchle, Matthias Soppart, Andreas und Nicole Werner, Johannes Pieschke, Gertrud Reichhart und Adem Aldag mit Witz und Spielfreude das immer wieder belustigte Publikum. Über manchen Kalauer könnte man diskutieren, dafür entschädigen einige hübsche lokalpolitische Spitzen. Um die Mutter zu täuschen, muss Willi das Eingangsschild „Psychiatrische Klinik Jettingen-Scheppach“abmontieren. „Soll ich Freihalden hängen lassen?“, fragt er zum Amüsement der Zuschauer.
Vor der Premiere des Stückes waren die Besucher zu einem Sektempfang und einem Büffet willkommen geheißen worden, im Eingangsbereich der Halle wurden die Gäste in Wort und Bild über die Aufführungen der vergangenen 20 Jahre informiert. In seiner Begrüßung der Besucher ließ auch Vereinsvorsitzender Martin Weng die wichtigsten Stationen der Jettinger Laienbühne Revue passieren. Zusammen mit seinen Söhnen Robin und Joshua sowie mit Maria Vollertsen stimmte Martin Weng die Zuschauer auch musikalisch ein – ganz im Stile jenes Rainhard Ambrosius, den er auf der Bühne gegeben hatte.
Nach gut zwei Stunden Theater gab’s zur Stärkung noch einen Nachtisch, den musikalischen Nachschlag bot rund um die Cocktailbar eine Jamsession-Band.
Am Ende der Komödie entwirren sich die Fäden. Die selbstgefällige und herablassende Mutter muss ebenso vom hohen Ross steigen wie Stationsarzt Dr. Dr. Schanz mit seinen Allmachtsfantasien. Die Fassaden bekommen Risse und bröckeln ab. Mutter, Mediziner und der (von Johannes Pieschke köstlich gespielte) Beschäftigungstherapeut sind so seltsam wie die anderen. Bliebe zum Schluss wohl die Erkenntnis: Mit Urteilen sollte man vorsichtig sein. Die Menschen sind eben unterschiedlich. Womöglich ist diese Verschiedenheit das einzig Normale.
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Weitere Aufführungen von „Neurosige Zeiten“sind am 9. und 16. November zu sehen, Beginn ist jeweils um 19 Uhr. Die Vorstellung am 10. November beginnt um 18 Uhr. Karten gibt es bei der Bäckerei Wengenmayer, Telefon 08225/693.