Mittelschwaebische Nachrichten

Wer definiert, was normal ist und was irre?

Theater „Neurosige Zeiten“, das Jubiläumss­tück der Bühne 99 in Jettingen, ist ausgesproc­hen komisch. Doch hinter der Komödie steckt auch eine ernste Geschichte

- VON WALTER KAISER

Jettingen Die Komödie ist heiter. Die Geschichte dahinter ist ernst. Denn in „Neurosige Zeiten“von Winnie Abel geht es letztlich um die Frage: Könnte es sein, dass häufig die Falschen in der Psychiatri­e landen? Dass nicht die etwas Absonderli­chen, sondern die Normalen mit ihrer Fassade des schönen Scheins das Problem sind? Wer definiert, was normal und was irre ist? Die Grenzen können rasch verwischen, wie die Verwechslu­ngskomödie zeigt. Ausgesucht hat sich das Stück die Bühne 99 in Jettingen zu ihrem 20-jährigen Bestehen. In der ausverkauf­ten Turn- und Festhalle wurde am Samstag ein Theaterabe­nd geboten, der auch mit seinem Drumherum ein wenig aus dem „normalen“Rahmen fiel.

Der Inhalt des Stückes mutet auf den ersten Blick skurril an. Agnes Adolon, Tochter einer reichen Hoteldynas­tie, ist in einer psychiatri­schen Wohngruppe untergebra­cht. Die Diagnose: Sexsucht. Mit ihr leben der neurotisch­e Hans, die wahnhaft in den österreich­ischen Schlagerst­ar Rainhard Ambrosius verliebte Marianne, die abgedrehte Malerin Desiree und der menschensc­heue Willi.

Panik bricht aus, als Cecile Adolon überrasche­nd ihren Besuch ankündigt. Denn die Mutter geht davon aus, dass ihre Tochter standesgem­äß in einer Villa residiert. Um den Schein zu wahren, müssen die Verrückten so tun, als seien sie normal. Dagegen entpuppen sich die Normalen zunehmend als neurotisch. Das Chaos wird nach und nach perfekt.

Unter der Regie von Ulli und Martin Weng, die auch auf der Bühne stehen, bietet das Ensemble der Bühne 99 eine schauspiel­erisch bemerkensw­erte Leistung. In ihren jeweiligen Rollen überzeugen Anja Häberle, Christoph Bell, Marion Löchle, Matthias Soppart, Andreas und Nicole Werner, Johannes Pieschke, Gertrud Reichhart und Adem Aldag mit Witz und Spielfreud­e das immer wieder belustigte Publikum. Über manchen Kalauer könnte man diskutiere­n, dafür entschädig­en einige hübsche lokalpolit­ische Spitzen. Um die Mutter zu täuschen, muss Willi das Eingangssc­hild „Psychiatri­sche Klinik Jettingen-Scheppach“abmontiere­n. „Soll ich Freihalden hängen lassen?“, fragt er zum Amüsement der Zuschauer.

Vor der Premiere des Stückes waren die Besucher zu einem Sektempfan­g und einem Büffet willkommen geheißen worden, im Eingangsbe­reich der Halle wurden die Gäste in Wort und Bild über die Aufführung­en der vergangene­n 20 Jahre informiert. In seiner Begrüßung der Besucher ließ auch Vereinsvor­sitzender Martin Weng die wichtigste­n Stationen der Jettinger Laienbühne Revue passieren. Zusammen mit seinen Söhnen Robin und Joshua sowie mit Maria Vollertsen stimmte Martin Weng die Zuschauer auch musikalisc­h ein – ganz im Stile jenes Rainhard Ambrosius, den er auf der Bühne gegeben hatte.

Nach gut zwei Stunden Theater gab’s zur Stärkung noch einen Nachtisch, den musikalisc­hen Nachschlag bot rund um die Cocktailba­r eine Jamsession-Band.

Am Ende der Komödie entwirren sich die Fäden. Die selbstgefä­llige und herablasse­nde Mutter muss ebenso vom hohen Ross steigen wie Stationsar­zt Dr. Dr. Schanz mit seinen Allmachtsf­antasien. Die Fassaden bekommen Risse und bröckeln ab. Mutter, Mediziner und der (von Johannes Pieschke köstlich gespielte) Beschäftig­ungstherap­eut sind so seltsam wie die anderen. Bliebe zum Schluss wohl die Erkenntnis: Mit Urteilen sollte man vorsichtig sein. Die Menschen sind eben unterschie­dlich. Womöglich ist diese Verschiede­nheit das einzig Normale.

Weitere Aufführung­en von „Neurosige Zeiten“sind am 9. und 16. November zu sehen, Beginn ist jeweils um 19 Uhr. Die Vorstellun­g am 10. November beginnt um 18 Uhr. Karten gibt es bei der Bäckerei Wengenmaye­r, Telefon 08225/693.

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Foto: Greta Kaiser Die heitere Komödie „Neurosige Zeiten“bietet gekonnt das Ensemble der Bühne 99 in Jettingen. Mit der aktuellen Aufführung feiert das Laientheat­er heuer sein 20-jähriges Bestehen.

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