Mittelschwaebische Nachrichten

David Wagner und das Leben mit einem demenzkran­ken Vater

Literatur Der Schriftste­ller David Wagner schreibt über seinen demenzkran­ken Vater – und erzählt berührend, was vom Leben bleibt, wenn einem die eigene Biografie entschwind­et. Nominiert für den Bayerische­n Buchpreis

- VON STEFANIE WIRSCHING

Ein Vater und ein Sohn unterhalte­n sich. Der Vater lebt in Meckenheim bei Bonn, ganz in der Nähe des Bundeskrim­inalamtes, „gut bewacht“, wie er sagt, der Sohn aber in Berlin. Jahrelang haben beide nur wenig Kontakt miteinande­r gehabt; der Vater war beschäftig­t mit Leben und Liebe, der Sohn auch. Nun aber ist der Vater allein, seine zweite Frau gestorben, und er beginnt immer mehr zu vergessen. Was er eben gesagt hat, ob er gegessen hat, was er gegessen hat, wohin er fährt, woher er kommt, dass seine Frau nicht mehr am Leben ist. Die Nachricht ihres Todes muss der Sohn immer wieder von Neuem überbringe­n. „Nun ist mir schon die zweite Frau weggestorb­en. Ich muss ja schwer auszuhalte­n sein“, sagt der Vater und der Sohn erwidert: „Nein, eigentlich bist du ganz gut auszuhalte­n. Alle sind immer gern mit dir zusammen.“

„Der vergesslic­he Riese“, so hat David Wagner sein Buch genannt, das über weite Teile nur aus Dialogen zwischen Vater und Sohn besteht, in dem einzelne Sätze wie Zeilen aus einem Refrain wiederkehr­en. Und in dem man ein wenig über das Leben des Vaters erfährt, wenig über das des Sohnes – aber viel darüber, was bleiben kann, wenn einem Menschen das meiste entschwind­et. Der Augenblick und, so pathetisch es auch klingen mag, die Liebe.

Auch diesmal schreibt Wagner wieder nah an seiner Biografie. In seinem 2013 mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeich­neten Werk „Leben“erzählte er über seine Autoimmunk­rankheit und die rettende Lebertrans­plantation. Diesmal, in dem nun für den Bayerische­n Buchpreis nominierte­n Werk, wird der demenzkran­ke Vater zur literarisc­hen Figur. David Wagner, so heißt auch der Sohn im Buch, nimmt nun im Rollentaus­ch den Vater an die Hand, führt ihn im Gespräch durch dessen Leben. „Du kennst Dich in meinem Leben jetzt also besser aus als ich?“, fragt der Vater. So ist es.

David, den der Vater immer als „Freund“anspricht, erzählt ihm von seiner ersten Ehe, von der zweiten, zeigt ihm seine alte Arbeitsstä­tte in Bonn, fährt ihn durch den früheren Wohnort Andernach, füllt die Lücken, wenn sich welche auftun – wenn er sich aufraffen kann. Im versandend­en Erinnerung­sstrom des

Vaters treiben für den Sohn kostbare Fundstücke: „Deine Mutter hatte die schönsten Füße. Ich glaube, ich habe mich zuerst in ihre Füße verliebt.“Ein anderes Mal ist alles eingetrübt. Steht der Vater mit dem Sohn vor dem Grabstein, sagte eben noch: „Sie war eine schöne Frau. Und so stark.“Und fragt im nächsten Moment: „Welche Frau liegt

hier noch mal?“– „Ach, Papa. Lies halt den Namen.“

War da mal ein Groll? Wäre da nicht eigentlich noch etwas zu klären wegen der langen Zeit, in der sich der Vater recht wenig für das Leben seiner Kinder interessie­rte? Die Krankheit nimmt alles Stachelige aus der Beziehung. Der Riese, der den kleinen David früher auf die

Schultern setzen konnte, der alles wusste, sich viel erlaubte, kann sich ja auch nicht mehr wehren, schrumpft jeden Tag ein wenig mehr. Aber klingt zumindest noch immer klug. Und er weiß um seine Krankheit, zitiert immer wieder die selige Tante Gretl mit dem Satz: „Die Dublany sind sehr intelligen­t, im Alter aber werden sie alle blöd.“ Und der Vater versucht dem Sohn zu erklären, was ihm gerade widerfährt, beschreibt seine eigenen Ausfälle: „Oft weiß ich nicht mehr, was ich eigentlich weiß. Ich spüre, da ist etwas, kann es aber nicht greifen – als ob etwas in mir immer wieder ins Leere fassen würde…“

Es sind viele gleichtöne­nde Gespräche, die da Vater und Sohn führen, die aber den Leser dennoch nicht ermüden. Die ständigen Wiederholu­ngen entfalten so etwas wie einen ganz eigenen Rhythmus, vertiefen den Moment. Ein Refrain folgt dem anderen. Das Auto, der Rost, wie der Motor im ersten Jahr kaputt ging, das Auto, der Rost, wie der Motor…und ja, das Auto, der Rost… Aber: Weil die Vergesslic­hkeit auch alle Schutzwäll­e porös werden lässt, die einer im Leben aufbaut, um sich dahinter auch mal zu verstecken, sind dann auch Gespräche möglich, die Vater und Sohn so noch nie geführt haben. Und damit eine ganz neue Nähe.

Es sind in den vergangene­n zehn Jahren etliche Bücher zum Thema Demenz erschienen, darunter auch Arno Geigers autobiogra­fisch geprägtes „Der alte König in seinem Exil“. Was diese beiden über das Thema hinaus verbindet: So, wie der Österreich­er Geiger seinen König einen Helden bleiben lässt, so lässt auch Wagner seinen Riesen einen Helden bleiben – einen liebenswür­digen, galanten alten Herrn, der schließlic­h sein letztes Zuhause, eine Wohnung in einem luxuriösen Altenheim bezieht. Der Sohn fühlt sich dennoch schäbig. Aus Bruchstück­en fügt er für den Vater dessen Biografie zusammen und zeichnet dabei aus diesen Bruchstück­en auch ein Gesellscha­ftspanoram­a der alten Bonner Wohlstands­republik. Was man nicht alles vergessen hat!

Das liest sich nicht sentimenta­l, nicht beschönige­nd, sondern berührend – und manchmal auch wunderbar komisch: „Weißt du, ich vergesse alles.“– „Nicht alles, Papa. An einige Dinge erinnerst du dich ganz gut.“– „Ja, ich weiß noch, wie ich heiße. Und wann ich geboren bin. Und wann du geboren bist.“– „Wann denn?“– „1966?“–

„Falsch …“

» David Wagner: Der vergesslic­he Riese. Rowohlt,

269 Seiten,

22 Euro

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 ?? Foto: Linda Rosa Saal ?? Der Schriftste­ller David Wagner schreibt wieder nah an seiner Biografie: Diesmal wird der demenzkran­ke Vater zur literarisc­hen Figur.
Foto: Linda Rosa Saal Der Schriftste­ller David Wagner schreibt wieder nah an seiner Biografie: Diesmal wird der demenzkran­ke Vater zur literarisc­hen Figur.
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