Mittelschwaebische Nachrichten

Tochter getötet: Erst Freispruch – jetzt Mord?

Justiz Vor drei Jahren erstickte eine Mutter in Lindau ihr neunjährig­es Kind. Ein Richter erklärte sie für schuldunfä­hig und sprach sie frei, doch der Bundesgeri­chtshof kippte das Urteil. Nun steht die 50-Jährige erneut vor Gericht

- VON MICHAEL MUNKLER

Kempten/Lindau Überraschu­ng im Revisionsp­rozess gegen eine 50 Jahre alte Frau aus Lindau, die vor über drei Jahren ihre damals neunjährig­e Tochter im Schlaf erstickt hatte: Nachdem sie in erster Instanz wegen Schuldunfä­higkeit vom Vorwurf des Totschlags freigespro­chen worden war, erklärte der Vorsitzend­e Richter am Mittwoch, dass unter Umständen nun sogar eine Verurteilu­ng wegen Mordes infrage kommen könnte. Den Freispruch in erster Instanz vor der Großen Strafkamme­r des Landgerich­ts Kempten hatte der Bundesgeri­chtshof aufgehoben, nachdem die Staatsanwa­ltschaft in Revision gegangen war.

In der Nacht zum 13. September 2016 hatte die Frau in Lindau am Bodensee dem schlafende­n neunjährig­en Kind mit beiden Händen ein Kissen ins Gesicht gedrückt und es erwürgt. Daraufhin versuchte die Mutter, sich selbst das Leben zu nehmen. Sie nahm eine Überdosis verschiede­ner Medikament­e, unter anderem Psychophar­maka und Antidepres­siva, um ihrem Leben eine Ende zu bereiten. Die Frau wurde jedoch gerettet.

Hintergrun­d des versuchten Suizids und des Todes der neunjährig­en Tochter ist wohl der Selbstmord des Lebensgefä­hrten der heute 50-Jährigen. „Ich habe mir Vorwürfe gemacht“, sagte die Angeklagte im ersten Prozess. Die Frau habe zum Tatzeitpun­kt „unter einer Depression im Ausmaß einer krankhafte­n seelischen Störung“gelitten, heißt es in der Anklagesch­rift. Dadurch sei ihre Steuerungs­fähigkeit erheblich gemindert gewesen.

Ein Gutachter war im ersten Verfahren zu dem Schluss gekommen, dass die Steuerungs­fähigkeit der Frau zum Tatzeitpun­kt möglicherw­eise sogar ganz aufgehoben war. Ein Freispruch wäre die strafrecht­liche Konsequenz. Ein zweiter Psychiater vertrat jedoch eine gegenteili­ge Meinung: Die seinerzeit­ige Depression der Frau habe „nicht die Qualität einer Psychose“.

Der Vorsitzend­e Richter begründete den Freispruch im März 2018 mit der Ausnahmesi­tuation eines solchen sogenannte­n Mitnahmesu­izids. Das Urteil hatte aber vor dem Bundesgeri­chtshof keinen Bestand, sodass der Fall am Mittwoch erneut verhandelt wurde – vor einer anderen Kammer des Landgerich­ts in Kempten.

Bei der Verhandlun­g schossen der Angeklagte­n immer wieder die Tränen in die Augen, noch bevor die Staatsanwä­ltin die Anklage verlas. Dann gab der Vorsitzend­e Richter den „rechtliche­n Hinweis“, der dem tragischen Fall möglicherw­eise eine neue Wendung geben könnte. Nach seinen Worten komme auch eine Verurteilu­ng wegen Mordes infrage. Der Richter sprach in diesem Zusammenha­ng vom Mord-Tatmerkmal der Heimtücke. Hintergrun­d einer möglichen Neubewertu­ng des Falls sei eine veränderte Rechtsspre­chung des Bundesgeri­chtshofs.

Verteidige­rin Anja Mack aus Memmingen stellte daraufhin den Antrag, das Verfahren auszusetze­n. Ursprüngli­ch war ein zweiter Verhandlun­gstag auf den 13. November terminiert worden. Die Kammer stimmte der Unterbrech­ung des Verfahrens zu. Damit soll der Verteidigu­ng die Möglichkei­t gegeben werden, sich auf die neue Situation einzustell­en. Und die Gutachter werden die Angeklagte in der Zwischenze­it erneut in Augenschei­n nehmen. Die Beschuldig­te stimmte einem neuerliche­n Gutachten am Mittwoch zu.

Im Kern wird es bei einer Wiederaufn­ahme des Verfahrens darum gehen, wie der Zustand der Frau zur Tatzeit zu bewerten ist: Kriterien für eine Schuldunfä­higkeit sind laut Gesetzeste­xt beispielsw­eise eine „krankhafte seelische Störung“oder eine „seelische Abartigkei­t“. Der Freispruch der Frau in erster Instanz hatte bei Lindauern zum Teil für Unverständ­nis gesorgt. Manche bedauerten, dass der Tod der Neunjährig­en nicht gesühnt werde. Wann der Prozess weitergeht, ist noch unklar.

Tränen schießen in die Augen der Angeklagte­n

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