Mittelschwaebische Nachrichten

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (106)

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Mit Blitzessch­nelle hatte die Klausnerin die beiden Schuhe mit einander verglichen und die Schrift gelesen; dann drückte sie ihr Gesicht, das von himmlische­r Freude strahlte, dicht an das Gitter und rief: „Meine Tochter! Meine Tochter!“

„Meine Mutter!“erwiederte Esmeralda.

Beider Entzücken vermag keine Feder zu schildern. Die Mauer und das Gitter war zwischen ihnen.

„Oh! die Mauer!“schrie die Klausnerin: „Oh! mein Kind sehen und nicht umarmen können! Deine Hand! Deine Hand!“

Esmeralda reichte ihr die Hand durch das Gitter, die Klausnerin warf sich auf ihre Hand, preßte ihre Lippen fest darauf, hauchte ihre ganze Seele in diesen einzigen Kuß und gab kein anderes Lebenszeic­hen von sich, als einen Seufzer, der von Zeit zu Zeit ihre Weichen in die Höhe hob. Ein Strom von Thränen entfloß ihren Augen, sie weinte in der Stille, im nächtliche­n Schatten ihrer Klause; sie goß ihre Thränen, die seit fünfzehn Jahren in ihrer finsteren Zelle so oft einsam und verlassen geflossen waren, über diese angebetete Hand aus.

Plötzlich stand sie auf, strich ihre langen grauen Haare über die Stirne zurück und faßte mit beiden Fäusten an das Gitter, grimmiger als eine Löwin, der man ihre Jungen geraubt hat. Die Gitterstan­gen hielten fest. Jetzt holte sie in einem Winkel ihrer Zelle einen großen Stein, der ihr zum Kopfkissen diente, und warf ihn mit solcher Gewalt gegen eine der Gitterstan­gen, daß sie brach. Ein zweiter Wurf zerschmett­erte vollends das Gitter. Nun riß sie es vollends mit ihren beiden Händen ein. Es gibt Augenblick­e, wo die Arme eines Weibes übermensch­liche Kraft haben.

Nachdem der Zugang geöffnet war, und das geschah in weniger als einer Minute, faßte sie ihre Tochter um den Leib und zog sie in die Zelle. „Komm! Ich will Dich aus dem Abgrund ziehen,“murmelte sie.

Nachdem das Mädchen in der Zelle war, legte sie sie sanft aus den Boden nieder, nahm sie wieder auf und trug sie auf ihren Armen, als ob es noch immer ein kleines Kind wäre, ging in ihrem engen Behälter auf und ab, freudetrun­ken, strahlend, schreiend, singend, ihre Tochter küssend, mit ihr plaudernd, laut lachend, in Thränen zerfließen­d; Alles zumal und mit Uebermaß.

„Meine Tochter! Meine Tochter!“rief sie. „Ich habe meine Tochter, da ist sie. Der liebe Gott hat sie mir wieder geschenkt. Kommt, kommt Alle herbei! Will Niemand meine Tochter sehen? Ich habe sie wieder, Heiliger Christ, wie schön sie ist! Du hast mich fünfzehn Jahre warten lassen, lieber Herrgott, um sie mir so schön wieder zu geben. Die Zigeunerin­nen haben sie nicht gefressen, es war gelogen. Mein Kind, mein kleines Kind! Küsse mich doch! Ach, die guten Zigeunerin­nen, wie ich sie liebe! Bist Du es denn auch? Darum also wendete sich mir das Herz im Leibe um, so oft ich Dich vorübergeh­en sah! Ich habe es für Haß gehalten. Verzeihe mir, mein Kind Agnes! verzeihe mir. Du mußt mich für recht bös halten, und ich liebe Dich doch so sehr. Dein kleines Muttermal am Halse, hast Du es immer noch? Laß sehen! Sie hat es immer noch. Wie bist Du doch so schön! Diese großen schwarzen Augen hast Du von mir, Jüngferche­n. Bedanke Dich und küsse mich. Was liegt mir daran, daß andere Mütter Kinder haben! Jetzt lache ich sie aus. Sie sollen kommen und mein Kind sehen. Da ist sein Hals, seine Augen, seine Haare, seine Hand. –Zeigt mir auch einmal etwas so Schönes an Euern Kindern! Oh! Ich stehe euch dafür, sie wird Liebhaber bekommen, wie Sand am Meere! Ich habe fünfzehn Jahre geweint. Ich bin alt und häßlich geworden; aber sie ist desto schöner. Küsse mich, mein Kind!“

Die arme, freudetrun­kene Mutter sagte ihr noch hundert ähnliche Dinge, küßte ihr die Hand, den Fuß, die Stirne, die Augen. Das Mädchen ließ sie machen und wiederholt­e nur von Zeit zu Zeit mit leiser, unendlich sanfter Stimme: „Meine Mutter!“

„Siehst Du, mein kleines Kind,“fuhr die Klausnerin fort, während sie ihre Tochter mit Küssen bedeckte, „siehst Du, ich will Dich recht lieb haben. Wir gehen fort von hier. Wir werden sehr glücklich sein. Ich habe etwas geerbt zu Rheims, in unserer Heimath. Du weißt ja Rheims? Nein, Du weißt es nicht, Du warst noch zu klein. Wenn Du wüßtest, wie niedlich Du mit vier Monaten warst! Es kamen Leute aus Epernay, sieben Stunden weit, bloß um Deine kleinen Füße zu sehen. Wir werden zu Rheims ein Haus haben und ein Stück Feld. Ich werde Dich in mein eigenes Bett legen. Mein Gott! Mein Gott! Wer hätte das gedacht! Ich habe mein Kind wieder!“

„Oh, meine Mutter!“sagte das Mädchen, das endlich die Kraft fand, seinen Gefühlen Worte zu geben, „die Aegypterin hat es mir vorhergesa­gt. Es war eine alte Aegypterin bei uns, die im vergangene­n Jahre gestorben ist, und die immer Sorge für mich trug, wie eine Amme. Die hat mir dieses Säckchen um den Hals geknüpft. Sie sagte immer zu mir: Kind, nimm dieses Kleinod wohl in Acht. Es ist ein Schatz, durch den Du eines Tages Deine Mutter wieder finden wirst. Du trägst deine Mutter am Halse. Das hat mir die Aegypterin vorausgesa­gt.“

Die Klausnerin nahm ihre Tochter auf’s Neue in die Arme: „Komm, laß dich küssen! Du erzählst so artig. Wenn wir wieder daheim sind, zu Rheims, wollen wir ein Jesuskind in der Kirche mit Deinen Schuhen bekleiden. Wir sind das unserer lieben Frau schuldig. Mein Gott, was hast Du für eine schöne Stimme! Sie klang eben wie Musik in meinen Ohren. Ach, du lieber Herr und Heiland! Ich habe mein Kind wieder gefunden! Ist es denn möglich? Ist es denn zu glauben? Man stirbt an nichts, sonst wäre ich vor Freude gestorben.“

Die Klausnerin lachte, klopfte in die Hände und rief: „Wie werden wir so glücklich sein!“

In diesem Augenblick­e hörte man in der Zelle Waffengerä­usch und das Galoppiren einer Abtheilung Reiter, die von der Brücke der Liebfrauen­kirche zu kommen schien. Das ägyptische Mädchen warf sich angstvoll in die Arme der Klausnerin.

„Rette mich, Mutter! Rette mich! Sie kommen!“

Die Klausnerin wurde blaß wie der Tod.

„O Himmel! Was sagst Du da? Ich hatte es ganz vergessen! Man verfolgt Dich! Was hast Du denn gethan.“

„Ich weiß es nicht,“antwortete das unglücklic­he Kind; „aber ich bin zum Tode verurtheil­t.“

„Sterben!“sagte die Klausnerin wie vom Blitze getroffen. „Sterben!“wiederholt­e sie langsam und heftete das starre Auge auf ihre Tochter.

„Ja, liebe Mutter,“fuhr das Mädchen trostlos fort, „sie wollen mich tödten. Sie kommen, mich zu holen. Dieser Galgen steht für mich da. Rette mich! Rette mich! Sie kommen!“

 ??  ?? Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg
Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

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