Mittelschwaebische Nachrichten
Gegen die Mauer in den Köpfen
Die Grenze zwischen Ost und West ist nun länger weg, als sie da war. Das ist zum 30. Mauerfall-Jubiläum die gute Nachricht. Doch es gibt eine neue Teilung
Die Mauer, die sich 155 Kilometer lang durch Deutschland schlängelte, beäugt von 302 Wachtürmen, bewacht von 259 Hundeanlagen, die eine Nation teilte, die Familien auseinanderriss, war eine der gruseligsten Erfindungen aller Zeiten. Sie zeigte, im Bösen, wozu Menschen fähig sind. Dass sie dann doch fiel und Menschen vor genau 30 Jahren auf ihr tanzen konnten, zeigte aber auch, wozu Menschen fähig sind, im Guten. Den Satz „Die Mauer muss weg“, der auf unserer Titelseite prangt, konnte damals jeder unterschreiben, jeder mitrufen.
Doch er steht heute im Präsens. Denn eine Mauer gibt es noch immer in Deutschland. Diese ist nicht aus Steinen gemauert, an ihr gibt es keine Wachzäune, keine Wachhunde. Diese Mauer ist in den Köpfen. Das macht die Sache aber nicht einfacher. Und scharf geschossen wird leider an ihr auch.
Denn die Prämisse, dass Deutschland zu seinem Glück vereint sei und nun zusammenwachse, was zusammengehöre, hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten leider nicht ganz erfüllt – obwohl die Voraussetzungen vielleicht in der Weltgeschichte niemals so günstig waren. Der Rest der Welt blickte erst durchaus skeptisch auf das Wieder-Zusammenwachsen von Deutschland, dem Land der NaziTäter, letztlich aber doch wohlwollend – hier verdanken wir den Amerikanern viel. Es floss so viel Aufbau-Geld wie wohl nie in der Geschichte, und es setzte sich, mit leichten Schwankungen, ein Boom durch, der bis heute anhält. Wirtschaftlich und infrastrukturell steht der Osten gut da.
Gefühlt ist das allerdings nicht so. Das hat der Osten mit dem Westen gemein, quer durch die (Bundes-)Republik wirkt die Stimmung gereizt, angespannt, polarisiert, obwohl die Lage eigentlich so günstig scheint. Und es brechen alte Konflikte wieder auf, das Gegeneinander
von „Ossis“und „Wessis“. Wenn erstere „Protest“wählen oder in der Flüchtlingsdebatte rufen: „Integriert doch erst mal uns“– wenn umgekehrt Wessis den Ossis vorschreiben wollen, wie sie zu leben, zu wählen, zu denken hätten, dann scheint da wenig beisammen. Ostdeutsche an der Staatsspitze haben daran wenig geändert, weder Bundespräsident Joachim Gauck noch Kanzlerin Angela Merkel. Im Gegenteil: Im Osten ist MerkelHass oft besonders ausgeprägt.
Woran es fehlt, ist im wahrsten Sinne des Wortes: Verständnis. Das soll überhaupt nicht heißen, eine Jammermentalität gutzuheißen oder Verständnis zu zeigen dafür, dass bei Wahlen im Osten ganz linke Heilsversprecher derzeit ebenso punkten können wie ganz rechte Zündler und Agitatoren.
Nein, gemeint ist das Verständnis dafür, was für ein Wandel sich da im Osten vollzogen hat, binnen kürzester Zeit. Wie erschöpfend solche Umbauprozesse sein können. Für die Ostdeutschen habe sich mit der Einheit alles geändert, für die Westdeutschen nur die Postleitzahl, sagte der Ex-Bundesinnenminister de Maizière einmal.
Wie funktioniert er denn nun, der demokratische „Aufbau Ost“? Vielleicht braucht es den gar nicht. Es würde schon reichen, weniger übereinander zu reden und mehr miteinander. Mal hinzufahren, sich zu begegnen. Es ist ein Geschenk, dass wir das können, ohne durch eine Mauer getrennt zu sein.
Dazu würde auch gehören: ihn anders zu feiern. Wir sind zurückgeschreckt, den 9. November zum Einheitstag zu machen, weil das Datum sehr dunkle Kapitel der deutschen Geschichte kennt. Das ist eine verdruckste Haltung.
Es wäre besser, ihn an diesem Tag zu begehen als am Kunstdatum 3. Oktober. Denn der Tag des Mauerfalls bleibt ein deutsches Fest, und das sollten wir Deutsche jedes Jahr auch feiern.
Der 9. November 1989 bleibt ein Fest