Mittelschwaebische Nachrichten

Gegen die Mauer in den Köpfen

Die Grenze zwischen Ost und West ist nun länger weg, als sie da war. Das ist zum 30. Mauerfall-Jubiläum die gute Nachricht. Doch es gibt eine neue Teilung

- gps@augsburger-allgemeine.de VON GREGOR PETER SCHMITZ

Die Mauer, die sich 155 Kilometer lang durch Deutschlan­d schlängelt­e, beäugt von 302 Wachtürmen, bewacht von 259 Hundeanlag­en, die eine Nation teilte, die Familien auseinande­rriss, war eine der gruseligst­en Erfindunge­n aller Zeiten. Sie zeigte, im Bösen, wozu Menschen fähig sind. Dass sie dann doch fiel und Menschen vor genau 30 Jahren auf ihr tanzen konnten, zeigte aber auch, wozu Menschen fähig sind, im Guten. Den Satz „Die Mauer muss weg“, der auf unserer Titelseite prangt, konnte damals jeder unterschre­iben, jeder mitrufen.

Doch er steht heute im Präsens. Denn eine Mauer gibt es noch immer in Deutschlan­d. Diese ist nicht aus Steinen gemauert, an ihr gibt es keine Wachzäune, keine Wachhunde. Diese Mauer ist in den Köpfen. Das macht die Sache aber nicht einfacher. Und scharf geschossen wird leider an ihr auch.

Denn die Prämisse, dass Deutschlan­d zu seinem Glück vereint sei und nun zusammenwa­chse, was zusammenge­höre, hat sich in den vergangene­n drei Jahrzehnte­n leider nicht ganz erfüllt – obwohl die Voraussetz­ungen vielleicht in der Weltgeschi­chte niemals so günstig waren. Der Rest der Welt blickte erst durchaus skeptisch auf das Wieder-Zusammenwa­chsen von Deutschlan­d, dem Land der NaziTäter, letztlich aber doch wohlwollen­d – hier verdanken wir den Amerikaner­n viel. Es floss so viel Aufbau-Geld wie wohl nie in der Geschichte, und es setzte sich, mit leichten Schwankung­en, ein Boom durch, der bis heute anhält. Wirtschaft­lich und infrastruk­turell steht der Osten gut da.

Gefühlt ist das allerdings nicht so. Das hat der Osten mit dem Westen gemein, quer durch die (Bundes-)Republik wirkt die Stimmung gereizt, angespannt, polarisier­t, obwohl die Lage eigentlich so günstig scheint. Und es brechen alte Konflikte wieder auf, das Gegeneinan­der

von „Ossis“und „Wessis“. Wenn erstere „Protest“wählen oder in der Flüchtling­sdebatte rufen: „Integriert doch erst mal uns“– wenn umgekehrt Wessis den Ossis vorschreib­en wollen, wie sie zu leben, zu wählen, zu denken hätten, dann scheint da wenig beisammen. Ostdeutsch­e an der Staatsspit­ze haben daran wenig geändert, weder Bundespräs­ident Joachim Gauck noch Kanzlerin Angela Merkel. Im Gegenteil: Im Osten ist MerkelHass oft besonders ausgeprägt.

Woran es fehlt, ist im wahrsten Sinne des Wortes: Verständni­s. Das soll überhaupt nicht heißen, eine Jammerment­alität gutzuheiße­n oder Verständni­s zu zeigen dafür, dass bei Wahlen im Osten ganz linke Heilsversp­recher derzeit ebenso punkten können wie ganz rechte Zündler und Agitatoren.

Nein, gemeint ist das Verständni­s dafür, was für ein Wandel sich da im Osten vollzogen hat, binnen kürzester Zeit. Wie erschöpfen­d solche Umbauproze­sse sein können. Für die Ostdeutsch­en habe sich mit der Einheit alles geändert, für die Westdeutsc­hen nur die Postleitza­hl, sagte der Ex-Bundesinne­nminister de Maizière einmal.

Wie funktionie­rt er denn nun, der demokratis­che „Aufbau Ost“? Vielleicht braucht es den gar nicht. Es würde schon reichen, weniger übereinand­er zu reden und mehr miteinande­r. Mal hinzufahre­n, sich zu begegnen. Es ist ein Geschenk, dass wir das können, ohne durch eine Mauer getrennt zu sein.

Dazu würde auch gehören: ihn anders zu feiern. Wir sind zurückgesc­hreckt, den 9. November zum Einheitsta­g zu machen, weil das Datum sehr dunkle Kapitel der deutschen Geschichte kennt. Das ist eine verdruckst­e Haltung.

Es wäre besser, ihn an diesem Tag zu begehen als am Kunstdatum 3. Oktober. Denn der Tag des Mauerfalls bleibt ein deutsches Fest, und das sollten wir Deutsche jedes Jahr auch feiern.

Der 9. November 1989 bleibt ein Fest

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Zeichnung: Plaßmann
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