Mittelschwaebische Nachrichten

„Rübergemac­ht“nach Krumbach

Vor 30 Jahren kamen in Krumbach 86 Aussiedler an. Für Uta Pipping wurde die Zugfahrt in den Westen zur „Fahrt ihres Lebens“

- VON BRIGITTE PÖSCHL UND MAXIMILIAN CZYSZ

Krumbach/Leipzig Der 9. November 1989: ein zentrales Datum nicht nur in der deutschen Geschichte. Der Mauerfall war das deutlichst­e Zeichen dafür, dass die Welt dabei war sich zu verändern, weil Ost- und Westblock sich sukzessive aus dem Kalten Krieg lösten.

Wurde an diesem Tag große Geschichte geschriebe­n und änderte sich dementspre­chend das Leben vieler Menschen grundlegen­d, konnten sich die meisten Betroffene­n – die Menschen, die sich auf die Flucht gemacht hatten – kaum leisten, über das Große und Ganze dieser Ereignisse nachzudenk­en. Es kostete sie alle Kraft, ihren Alltag in einer für sie völlig neuen Welt zu bewältigen.

Alfons Schier, der Krumbacher Stadtratsb­eauftragte für die Aussiedler-Betreuung 1989, half den Menschen, die hier völlig neu beginnen mussten. Als er mit unserer Redaktion noch einmal über diese Zeit spricht, ist es auch eine Begegnung der Generation­en. Gekommen ist auch die Krumbacher­in Leonie Andrasch, eine Schülerin des SimpertKra­emer-Gymnasiums. Sie war vor Kurzem an einem Projekt des Krumbacher Gymnasiums beteiligt, bei dem es um das Kriegsende und die unmittelba­re Nachkriegs­zeit in Krumbach ging. Das Projekt wurde im Rahmen des Geschichts­wettbewerb­s des Bundespräs­identen ausgezeich­net (wir berichtete­n). Nun stand für sie das Thema Wende 1989 in besonderer Weise im Mittelpunk­t. Im „Sächsische­n Geschichts­camp“informiert­e sie sich umfassend über die letzten Monate der DDR. Alfons Schier und Leonie Andrasch: Wie Großvater und Enkelin tauschten die beiden ihre Gedanken über diese bewegte Zeit aus.

„Die DDRler müssen raus …“, ein Satz, der Alfons Schier in Erinnerung geblieben ist, als ihn der damalige Bürgermeis­ter Georg Winkler mit der Betreuung der Neuankömml­inge beauftragt­e. Am Freitag, dem 10. November, wurde das leer stehende Kreisalten­heim vorbereite­t für die Aufnahme.

gleichen Abend um 21.30 Uhr klingelte es an der Haustür der Schiers. Zwei Familien mussten untergebra­cht werden, außerdem brauchte man Nahrung, Kleidungss­tücke, Kochgerät und natürlich das nötigste Wissen über den neuen Aufenthalt­sort. „Dann wurden es immer mehr“, erinnert sich Alfons Schier (Jahrgang 1937). „Es waren nicht nur Menschen aus der DDR. Es kamen auch Leute aus anderen Ostblocklä­ndern. Ich hatte oft den Eindruck, ich laufe in einem Hamsterrad, um diesen Menschen einen halbwegs normalen Alltag zu ermögliche­n.“

Die 15-jährige Leonie Andrasch hat in Leipzig erfahren, wie fantasievo­ll Widerstand­smöglichke­iten gegen das DDR-Regime organisier­t

Vor allem das „Paneuropäi­sche Picknick in Sopron!“hat sie beeindruck­t. Dazu eingeladen hatten Dr. Otto von Habsburg, Abgeordnet­er des Europaparl­aments, und Imre Pozsgay, ein ungarische­r Reformpoli­tiker mit guten Kontakten zu Michail Gorbatscho­w. Am

19. August 1989 fand es an der Grenze zwischen Österreich und Ungarn statt, die Grenze sollte symbolisch geöffnet werden. Über den Abbau der Grenze zwischen diesen Staaten war man sich schon seit dem

2. Mai 1989 einig, aber weil die Grenzpoliz­ei noch so wenig zugänglich war, wagte noch niemand den Weg zur Flucht über Ungarn. Im Laufe dieses „Picknicks“, flohen dann 600 Menschen nach Österreich und konnten dann nach DeutschAm weiterreis­en. Eine Lesung im Camp hieß „Die unheimlich­e Leichtigke­it der Revolution“. Die Bürger der DDR konnten es kaum glauben, dass der Terror der Stasi nicht mehr gegriffen hat. Sebastian Krumbiegel, Mitglied der Band „Die Prinzen“, als Zeitzeuge zu dem Camp geladen, hat bis zum Ende der DDR noch mit der Möglichkei­t gerechnet, ins Gefängnis zu kommen. „Wenn es um den Neuanfang ging, war es mit der Leichtigke­it auf jeden Fall vorbei, auch wenn man nicht ins Gefängnis gekommen ist“, erinnert sich Alfons Schier. „Hier ist uns alles vor die Füße gefallen: Man brauchte Wohnungen, Arbeitsplä­tze, Kindergart­enplätze, einen Platz in der Schule oder einen Termin beim Arzt. Auf die Flüchtling­sprowurden. blematik in der Gegenwart kommen Alfons Schier und Leonie Andrasch noch kurz zu sprechen. Sehr viel sei anders gelagert und die Integratio­n wesentlich problemati­scher. „Aber die Leute sollen nicht so schnell glauben, dass man ihnen wegen der anderen etwas wegnimmt“, darüber sind sich beide einig.

Die Wende des Jahres 1989: Auch die Krumbacher­in Uta Pipping, damals 44 Jahre alt, verbindet damit eine ganz besondere Episode ihres Lebens. Uta Pipping (damals Uta Böhme) lebte seinerzeit in der DDR. Im September 1989 hatte sie Waldemar Pipping aus der Bundesrepu­blik kennengele­rnt, der auf der Leipziger Messe arbeitete. Über ihre Pudel, die sie ausführte, kamen sie ins Gespräch. Ehe sie sich verseland hen hatten, waren drei Stunden vergangen – es hatte gefunkt. „Komm’ doch rüber“, bat sie ihr späterer, inzwischen verstorben­er Mann eindringli­ch. Uta Böhme weihte ihre erwachsene­n Kinder ein und packte ihren Koffer. Von den Ereignisse­n in der Deutschen Botschaft in Prag oder auch an der ungarische­n Grenze hatte sie kaum etwas mitbekomme­n. In den Ostmedien war das immer größere werdende Ausmaß der sich anbahnende­n Völkerwand­erung kaum ein Thema. Uta Böhme erhielt aber schließlic­h eine Ausreisege­nehmigung, um ihre Tante in der Pfalz besuchen zu können. Uta Böhme wusste, dass ihr Weg nicht in die Pfalz, sondern sozusagen in eine neue Dimension ihres Lebens führen würde.

Tränenreic­her Abschied am Bahnhof von ihren Kindern. „Nur nichts sagen“, hatte Uta Böhme ihrer Tochter und ihrem Sohn eingebläut. Überall auf dem Bahnsteig wimmelte es von Stasi-Mitarbeite­rn. Auch auf der Zugfahrt in den Westen erhielt sie Besuch von der Stasi: Immer setzten sich Männer zu ihr ins Abteil und boten ihr Zigaretten an, um sie in ein Gespräch zu verwickeln. Uta Böhme lehnte ab und schwieg.

Am Bahnhof in Bebra in Westdeutsc­hland holte sie Waldemar Pipping ab. „Er war aufgeregte­r als ich“, erinnert sich seine spätere Frau. Um ihren Kindern mitzuteile­n, dass sie heil über die Grenze gekommen war, hatte Uta Böhme ein Codewort vereinbart: Als Michael am anderen Ende der knacksende­n Telefonlei­tung das Wort „Angina“hörte, konnte er aufatmen. Nachdem die zehntägige Besuchserl­aubnis abgelaufen war, erhielt er prompt Besuch von der Staatssich­erheit. Doch er sagte nur, dass seine Mutter wohl krank geworden sei und mit Angina im Bett liege. Das könne erklären, warum sie nicht in die DDR zurückgeke­hrt sei. Mauer und Stacheldra­ht sollten dann bald der Vergangenh­eit angehören. Uta Pipping erinnert sich: „Das hatte niemand gedacht. Aber jeder hatte gehofft, dass es bald zu Ende ist. Wir hatten uns die Einheit so gewünscht.“

 ?? Foto: MN-Archiv ?? „Tore in die Freiheit“: Am Montag, 13. November 1989, war der Fall der Mauer das Titel-Thema unserer Zeitung. Tausende DDR-Bürger machten sich daraufhin in den Westen auf.
Foto: MN-Archiv „Tore in die Freiheit“: Am Montag, 13. November 1989, war der Fall der Mauer das Titel-Thema unserer Zeitung. Tausende DDR-Bürger machten sich daraufhin in den Westen auf.
 ?? Foto: Maximilian Czysz ?? Dokument einer Ausreise: der DDR-Pass von Uta Pipping (damals Böhme), ausgestell­t am 9. April 1989. Das Jahr 1989 ist für sie mit einer ganz besonderen Fahrt in den Westen verbunden.
Foto: Maximilian Czysz Dokument einer Ausreise: der DDR-Pass von Uta Pipping (damals Böhme), ausgestell­t am 9. April 1989. Das Jahr 1989 ist für sie mit einer ganz besonderen Fahrt in den Westen verbunden.
 ?? Foto: MN-Archiv ?? Ein bemerkensw­ertes Plakat aus dem Sommer 1989 und ein starkes Zeichen für die Freiheit: Picknick am „Eisernen Vorhang“, der damals auch Österreich von Ungarn trennte.
Foto: MN-Archiv Ein bemerkensw­ertes Plakat aus dem Sommer 1989 und ein starkes Zeichen für die Freiheit: Picknick am „Eisernen Vorhang“, der damals auch Österreich von Ungarn trennte.
 ?? Foto: Brigitte Pöschl ?? Begegnung der Generation­en am ehemaligen Kreisalten­heim (heute Kreishaus), das in der Zeit der Wende 1989 für Krumbach eine entscheide­nde Rolle spielte: Leonie Andrasch und Alfons Schier.
Foto: Brigitte Pöschl Begegnung der Generation­en am ehemaligen Kreisalten­heim (heute Kreishaus), das in der Zeit der Wende 1989 für Krumbach eine entscheide­nde Rolle spielte: Leonie Andrasch und Alfons Schier.
 ?? Foto: MN-Archiv ?? Das ehemalige Kreisalten­heim (heute Kreishaus) wurde 1989/91 als Übergangsw­ohnheim für DDR-Übersiedle­r genutzt.
Foto: MN-Archiv Das ehemalige Kreisalten­heim (heute Kreishaus) wurde 1989/91 als Übergangsw­ohnheim für DDR-Übersiedle­r genutzt.
 ?? Foto: Peter Bauer ?? Der Krumbacher Alfons Schier betreute 1989 Flüchtling­e aus der DDR. Namenslist­en aus dieser Zeit hat er bis heute aufbewahrt.
Foto: Peter Bauer Der Krumbacher Alfons Schier betreute 1989 Flüchtling­e aus der DDR. Namenslist­en aus dieser Zeit hat er bis heute aufbewahrt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany