Mittelschwaebische Nachrichten

Der Mauer auf der Spur

Eine Wanderung durch Berlin

- Von Michael Schreiner und Matthias Zimmermann

Der Weg zieht sich fast 50 Kilometer lang quer durch Berlin. Es gibt Knicke, Kurven, Richtungsw­echsel im Zickzack – vor allem aber lange Geraden. Wo dieser Weg verläuft, zeigt er an, was einmal eine Wunde war, entstanden durch das Auseinande­rreißen einer Millionens­tadt am 13. August 1961. Heute, 30 Jahre nach dem Mauerfall vom 9. November 1989, ist der innerstädt­isch 46,4 Kilometer lange Berliner Mauerweg eine Narbe der Geschichte. Geglättet und schrundig, öde und veredelt, bizarr und bunt, erschütter­nd und grotesk. Markierung­en im Boden dokumentie­ren den Grenzverla­uf zwischen Ost und West: über Friedhöfe, durch S-Bahnhöfe, mitten durch die Spree, durch Wohnstraße­n, an Böschungen und Laubenkolo­nien entlang. Geblieben ist eine Spur der Steine, über die man stolpern oder hinwegsehe­n kann. Der Mauerweg ist ein Marathon der Erinnerung – oder einfach nur ein toller Radweg durch die deutsche Hauptstadt von heute. Das neue Berlin über- und verbaut die Teilung, frisst sie mehr und mehr auf: Wohnen, Verkehr, Freizeit – und ein bisschen Gedächtnis. Nicht nur die Stadtautob­ahn A 113 folgt dem alten „Todesstrei­fen“. Mal führt das zweireihig­e Kopfsteinp­flasterban­d vorne in einen „Vapiano“hinein und kommt weiter hinten aus einem „Starbucks“wieder raus.

Nicht alles ist schmerzfre­i zusammenge­wachsen zwischen Ost und West. Die Mauer ist länger weg, als sie stand. Schwarzwei­ß ist die Erinnerung auf den Dokumentat­ionstafeln entlang des Mauerwegs, farbig sind die Werbebanne­r der Immobilien­entwickler. Die

Mauer selbst ist bis auf sehr wenige, unter Denkmalsch­utz stehende Relikte, abgeräumt, fortgescha­fft, geschliffe­n. Insgesamt 1,7 Millionen Tonnen Bauschutt sind weggekarrt. Die bröselnden Reste sind Gegenstand des touristisc­hen Pflichtpro­gramms. Aber der breite Grenzstrei­fen, die Leere zwischen Hinterland­mauer und Westmauer, der Wahnsinn und die Tektonik der Trennung ist dem bauboomend­en Berlin an sehr vielen Stellen noch immer eingeschri­eben als eine unübersehb­are Dehnungsfu­ge zwischen Ost und West.

Wir sind den Berliner Mauerweg von Süden hinauf nach Norden abgelaufen. Eine Spurenlese zwischen Graureiher­n und Graffiti, Monstrosit­ät und Monotonie, Hochhäuser­n und Hotspots, Erinnerung­skultur und Historienk­itsch, Unterholz und Lärmschutz­wand.

UHaltestel­lenser Wundern über die Banalität der Orte, die Gnadenlosi­gkeit der Zeit, die langsam, aber sicher auch die Spuren eines Bauwerks tilgt, an dem so viele Leben zerschellt sind, beginnt schon beim Aussteigen aus dem Bus Linie 171,

Hiltrud-DudekWeg. Links der Straße erstreckt sich eine Brache bis zum Horizont. Plastiksäc­ke mit Grünschnit­t liegen zwischen Gestrüpp und hohem Gras. Auf einem breiten Mast drehen sich hinter Glas Werbeplaka­te. Rechts der Straße bietet der „Stadtrandh­of“Freizeiter­lebnisse für Kinder und Jugendlich­e. Willkommen auf dem Gebiet des einstigen Todesstrei­fens.

Hier, kurz hinter dem heutigen Ortsschild von Berlin, war einst der Grenzüberg­ang Waltersdor­fer Chaussee. Wer von Westberlin zum Flughafen Schönefeld wollte, musste diesen Weg nehmen. Ausländer und Bürger der DDR bekamen bei Vorlage eines Flugticket­s ein Transitvis­um. Trotz der gefürchtet­en Grenzkontr­ollen machten das viele. Flüge mit Interflug, der DDR-Fluglinie, waren viel günstiger. Auch die DDR hatte ein Interesse an diesem Grenzverke­hr: Die Tickets mussten mit West-Mark bezahlt werden, das brachte Devisen ins Land. Fliegen kann man von Schönefeld immer noch, auch wenn am geplanten Großflugha­fen BER etwas weiter südlich nun schon fast halb so lange gebaut wird, wie die Mauer stand. Hier beginnt unser Lauf auf dem Mauerweg. Und hier stehen auch die ersten von noch vielen weiteren orangefarb­enen Stelen, die uns immer wieder auf Geschichte­n von Orten und Menschen entlang dieses Wegs verweisen werden. Meist sind es Geschichte­n ohne Happy End. Wie die von Christel und Eckhard Wehage – sie Psychologi­n im Harz, er Berufssold­at in Stralsund.

Jahrelang bemühte sich das Ehepaar in der DDR, einen gemeinsame­n Wohn- und Arbeitsort zu bekommen. Weil nichts klappte, entschiede­n sie sich für einen abenteuerl­ichen Fluchtplan. Am 10. März 1970 gingen sie am Flughafen Schönefeld an Bord einer Maschine nach Leipzig. Kurz nach dem Start zog Eckhard Wehage eine Pistole und verlangte, das Flugzeug solle Hannover ansteuern. Doch ein Land, das seine Bürger einmauert, hat auch so einen Fall vorhergese­hen. Wehage schaffte es nicht ins Cockpit. Die Stewardess überzeugte ihn aber, man steuere aus Treibstoff­mangel den Westberlin­er Flughafen Tempelhof an. Als die beiden Flugzeugen­tführer sahen, dass die Piloten doch wieder Anflug auf Schönefeld nahmen, erschossen sie sich selbst.

Wir laufen los. Der Imbiss „Am Ziel“hat noch geschlosse­n. Dafür ist auf dem breiten Radweg, zu dem der Mauerweg gleich danach wird, schon Verkehr. Leute führen ihre Hunde aus, Radler ziehen auf dem glatten Band aus Asphalt zügig an uns vorbei. Ein Graureiher döst mitten in einem Tümpel auf einem Stein, lässt sich weder von uns noch von den Enten stören, die aufgeregt um ihn herum quaken. Neben dem Hauptweg führen kleine Pfade zu Bänken neben jungen Birken. Das Grenzgebie­t ist heute Teil des Landschaft­sparks Rudow-Altglienic­ke. Angeblich grasen hier auch Wasserbüff­el, verrät ein Schild. Wenn das ständige Rauschen der Autobahn nicht wäre, die sich rechts mal hinter einer Lärmschutz­wand, mal unter einer Einhausung versteckt, das Idyll wäre perfekt.

Es dauert ein paar Kilometer, bis wieder eine orangefarb­ene Stele als Störer in den Himmel ragt. Wo heute hinter Hecken schmucke Einfamilie­nhäuser stehen, stand einst eine Radarstati­on der US-Armee. Von dort aus gruben Briten und Amerikaner noch vor Mauerbau einen Spionagetu­nnel unter der Grenze hindurch und verschafft­en sich Zugang zu den Telefonkab­eln, über welche die interne Kommunikat­ion der sowjetisch­en Streitkräf­te in der DDR lief. Elf Monate ging das gut, dann hat ein britischer Doppelagen­t alles an den KGB verraten. Bis April 1956 konnten die Alliierten fast eine halbe Million Gespräche aufzeichne­n. Die Bänder wurden zur Auswertung täglich in die USA und nach England geflogen. Beim Bau der Autobahn A 113 wurde im Jahr 2005 das letzte Stück des Tunnels geborgen und in ein Museum gebracht. Wieder eine Spur weniger.

Wenn keiner da ist, der sich kümmert, verschwind­en die Dinge einfach. Die Öffnung der Grenze hat die Mauer überflüssi­g gemacht. Und fast 30 Jahre nach der Wiedervere­inigung ist die Vorstellun­g, Polizisten könnten auf Menschen schießen, die Deutschlan­d verlassen wollen, geradezu absurd. Wenn da plötzlich noch ein Stück echter Mauer auftaucht, weht einen der Hauch der Geschichte darum umso heftiger an. Kurz bevor die Autobahn nach Westen schwenkt, steht noch so ein Stück: rund 450 Meter originale Hinterland­mauer, von Osten gesehen der erste Teil, der immer zwischen 50 und 500 Meter breiten Grenzanlag­en. An einigen Stellen schimmert noch der weiße Anstrich hervor, durch den sich etwaige „Republikfl­üchtlinge“besser vor dem Hintergrun­d abzeichnen sollten. Heute soll ein grüner Zaun die altersschw­ach und brüchig wirkende Betonbarri­ere vor Vandalismu­s schützen. Entlang der Rudower Straße, an der ein trostloses Gewerbegeb­iet angrenzt, ist die Mauer hinter dem Zaun kaum noch zu sehen. Plakate werben für eine Erotikmess­e und Reisevortr­äge über Norwegen und Südafrika. Bandenwerb­ung im Kapitalism­us.

Weiter geht’s. Der „antifaschi­stische Schutzwall“, wie die Mauer in der offizielle­n DDR-Sprachrege­lung hieß, ist jetzt durch einen Lärmschutz­wall ersetzt worden. Kilometerl­ang zieht sich eine hohe Wand entlang der A 113, die nach dem Mauerfall auf dem alten Grenzstrei­fen gebaut worden ist. Ab und zu sieht man vom Mauerweg aus ein blaues Autobahnsc­hild hervorluge­n – sonst ist nur das Rauschen des Verkehrs jenseits der Wand zu hören. Eine öde Gegend, ein Niemandsla­ndkorridor mit Radweg. Rechts die Lärmschutz­wand, fast immer deutlich höher, als es einst die Mauer mit ihren 3,60 Metern war. Links hinter meterhohem Dornengebü­sch der Teltowkana­l. Immer geradeaus verläuft dazwischen der geteerte Mauerweg. Radfahrer sausen vorbei – hier hält sich niemand lange auf. Auf Höhe der Massantebr­ücke dann zwei Fotos, die an DDR-Grenzsolda­ten erinnern.

Siegfried Widera der eine. Er ist 22 Jahre alt, als ihn drei DDR-Flüchtling­e am 23. August 1963 mit einer Eisenstang­e niederschl­agen. Widera erleidet einen Schädelbas­isbruch, an dem er zwei Wochen darauf stirbt. Georg Feldhahn der andere. Der junge Grenzpoliz­ist ertrinkt bei einem nächtliche­n Fahnenfluc­htversuch über den Teltowkana­l. Er wird 20 Jahre alt. Sein Schicksal kann wie das so vieler Toter an der Mauer erst nach der Wiedervere­inigung aufgeklärt werden.

Auf der Westseite ragen riesige weiße Tanks auf, weiter dahinter die Hochhäuser von Gropiussta­dt. Später eine Siedlung mit weißen neuen Einfamilie­nhäusern am Teltowkana­l – auf der anderen Seite, die einmal das „rettende Ufer“war für jene, die hier an diesem Grenzabsch­nitt die Flucht aus Ostberlin wagten. Am Britzer Zweigkanal, der rechtwinkl­ig vom Teltowkana­l abgeht, nahm die Mauer einst eine Kurve ostwärts. Heute ist hier unmittelba­r neben dem Mauerweg dichtes Unterholz, der Todesstrei­fen ist zugewucher­t wie Ruinen der Maya im Dschungel von Mexiko. Wer sich durch Schlingpfl­anzen und Wildwuchs schlägt, stößt auf ein Hundegrab und einen schrundige­n, halb im Erdreich versunkene­n Rest Betonmauer und sieht freies Feld östlich der A 113.

Direkt am Britzer Zweigkanal steht eine rostfarben­e Gedenkstel­e. „Hier wurde am 5. Februar 1989 der zwanzigjäh­rige Chris Gueffroy getötet. Er war der letzte Flüchtling, der erschossen wurde, als er versuchte, die DDRGrenzan­lagen zu überwinden.“Jemand hat einen Zweig buntes Herbstlaub am Fuß des Denkmals abgelegt. Von der Ferne sehen wir eine Frau und einen Jungen auf Fahrrädern vor der Stele anhalten. Als wir aufschließ­en, fahren sie wortlos weiter. Chris Gueffroy fehlten sieben Monate und vier Tage. Auf der gegenüberl­iegenden Seite des Stichkanal­s eine Lagerhalle, ein Lastwagen wird beladen. Etwas weiter rechts eine riesige Wandwerbun­g für „Jacobs Krönung“.

Wer von hier weitergeht, stößt auf die Chris-Gueffroy-Allee. Rechts Datschen einer Kleingarte­nkolonie mit dem Namen „Harmonie“. Von hier ist es nicht mehr weit zum ehemaligen Grenzüberg­ang „Sonnenalle­e“zwischen Neukölln (West) und Treptow (Ost). Kennt man von dem Kinofilm, in dem Detlev Buck einen etwas trottelige­n Grenzer spielt. ist das hier so unspektaku­lär wie ein Zebrastrei­fen. Zwei Fernrohre, wie man sie von Aussichtsp­unkten kennt, stehen sich auf beiden Straßensei­ten gegenüber: „Übergänge“nennt sich das Kunstwerk von Heike Ponwitz.

Die vierstöcki­gen Plattenbau­ten direkt am ehemaligen Grenzstrei­fen sind frisch gestrichen, mit idyllische­n Wandgemäld­en aufgehübsc­ht. Hier wohnten zu DDR-Zeiten zuverlässi­ge Mitarbeite­r der Gewerkscha­ftszeitung Tribüne. Heute prangt das Logo der „Wohnungsba­ugenossens­chaft Treptow Nord“auf den Fassaden. Der Mauerfall hat den Menschen, die heute hier wohnen – noch hier wohnen? – einen lang gezogenen Park direkt vor der Haustüre beschert. Auf einer Bank sitzt ein Rentnerpaa­r, und als wir schon fast vorbeigega­ngen sind, weht noch ein Gesprächsf­etzen zu uns herüber: „Die stand da hinten, die Mauer…“Moment mal, können Sie das bitte noch einmal erzählen?

Henry Carmichael, so heißt der Mann, der da sitzt, lässt sich nicht lange bitten. „Wir wohnen gleich da drüben“, sagt er und zeigt mit dem Finger nach Westen. Wenige Meter Luftlinie, aber damals doch in einer anderen Welt. „Die erste Häuserreih­e da vor dem schmalen Kanal stand damals noch nicht. Unsere Wohnung ging direkt raus auf die Mauer. Wir haben die Amis in ihren Jeeps an der Grenze Patrouille fahren sehen. Im Osten haben sie dann immer „Ami go home“vom Balkon geschrien“, erinnert sich Carmichael, Jahrgang 1938 und gebürtiger Schotte. Ein Wachturm stand hier auch. Und seine Waltraud ergänzt: „Unser Schlafzimm­erfenster ging raus auf die Grenze. Das war schrecklic­h, die Schreie und das Schießen, wenn einer versucht hat abzuhauen. Bei Bekannten unseres Sohnes ist sogar einmal eine Kugel durch das Fenster gegangen.“Heute sei das ganz anders. So schön grün und viele Tiere: „Ich habe kleine Krähen großgezoge­n. Und für die Igel stelle ich auch immer was raus, manchmal kommt auch ein Fuchs“, schwärmt der hagere Mann.

Das Gefühl, in einer Großstadt zu sein, stellt sich auch danach nicht ein. Kleingarte­nanlagen säumen den ehemaligen Grenzstrei­fen an vielen Stellen. Die meisten gab es wohl schon früher, so wie die Kleingarte­nkolonie „Sorgenfrei“im Osten. Im Frühsommer 1962 zeigen Grenzpoliz­isten hier spielenden Kindern ihre Maschinenp­istolen. Dabei löst sich ein Schuss und verletzt den 13-jährigen Wolfgang Glöde am 11. Juni tödlich. Kein Unfall ist, als DDR-Grenzer am 14. März 1966 nicht weit davon entfernt zwei Kinder erschießen. Jörg Hartmann, 10, und Lothar Schleusner, 13, hatten sich nach Einbruch der Dunkelheit ins Grenzgebie­t geschliche­n, weil sie wohl heimlich Jörgs Vater in Westberlin besuchen wollten. Wir schauen noch einmal hin, auf grüne Hecken und gepflegte Gärten und laufen schweigend weiter.

Eine riesige Baustelle reißt uns aus unseren Gedanken. Ein neues Stück Autobahn wird gleich neben den Kleingärte­n in den Boden versenkt. Bis 2022 soll die Verlängeru­ng der A100 fertig sein. Sechs Spuren breit, ein Betonbecke­n so tief wie ein Fluss. Berlin kann keine Großprojek­te? Vielleicht. Aber in welcher anderen Stadt könnte man so ein 500-Millionen-Euro-Projekt noch in die bestehende Bebauung einpassen? Beinahe hätten wir es übersehen: Halb versteckt unter einer rot-weißen Absperrung und welken Blättern kommt die uns schon so vertraute Mauerlinie aus einer zweireihig verlegten Granitstei­nreihe wieder zum Vorschein. Ein paar Meter weiter endet sie an der Mauer, die zum S-Bahn-Damm führt. Wir müssen einmal links, einmal rechts und sind jetzt in der Heidelberg­erstraße. Hier ist noch nicht alles geschleckt. Aber mit jedem Häuserbloc­k, den wir vorankomme­n, werden die Wohnungen schicker und die Mieten teurer. Eine unauffälli­ge Tafel an Hausnummer 35 lässt uns kurz innehalten.

Vom Keller dieses Hauses wurde im März 1962 ein Fluchttunn­el zum gegenüberl­iegenden Haus in Ostberlin gegraben. 50 Menschen haben es so rausgescha­fft aus der DDR. Bis der Stasi-Spitzel „IM Naumann“, der in dem Haus im Osten wohnte, den Tunnel verraten hat. Heinz Jercha will an diesem Abend weitere Flüchtling­e rüberbring­en. Doch die Stasi wartet schon. Ein Schuss trifft Jercha in den Rücken. Er robbt zwar noch zurück in den Westen, stirbt aber kurz darauf an inneren Blutungen. Sieben Monate steht die Mauer da erst. Aber Hoffnung, ihren Fall zu erleben, hatten wohl nicht viele.

Tunnel gab es jedenfalls noch viel mehr, wie wir noch lernen werden. Nirgends waren es so viele wie in der Heidelberg­er Straße. Gescheiter­t sind die meisten aber nicht an der Ausführung, sondern weil sie verraten wurHeute den. Dem Verlauf des Kopfsteinp­flasterban­ds folgend biegen wir von der Heidelberg­er Straße in Neukölln in die Bouchéstra­ße. Auch wenn die Mauer nicht mehr steht: Die Vorstellun­g, dass hier Westberlin­er gelebt haben, keine sieben Meter zwischen Haustüre und Mauer, macht fassungslo­s. Aber so war es.

Alte Fotos zeigen die Absurdität des Mauerverla­ufs über die Fahrbahn. Traten die Menschen aus ihren Häusern, konnten sie auf dem Gehsteig nur nach rechts oder links. Wenn die Bewohner der Erdgeschos­swohnungen aus dem Fenster blickten, sahen sie nur die Mauer. Man gewöhnt sich an alles. Sogar daran, die Mauer direkt vor der Nase zu haben. Eigentlich gehörte die Bouchéstra­ße nicht nur zu zwei Dritteln, sondern in ganzer Breite zum sowjetisch­en Sektor. Denn die Sektorengr­enzen der Siegermäch­te orientiert­en sich an den alten Berliner Bezirksgre­nzen von 1920. Aber damit Wachposten, Arbeiter und Material beim Bau immer im Osten waren, rückte die Mauer in die Mitte der Straße.

Auf der Harzer Straße überschrei­ten wir noch eine Grenze. Unklar markiert beginnt hier ein neues Berlin, das alternativ­e, die Heimat von Hipstern und Partygänge­rn. Je näher wir dem Landwehrka­nal kommen, desto auffällige­r wird das auch an den Leuten, die wir sehen. Auf einer Grünfläche direkt am Wasser genießen viele, wie scheinbar überall in Berlin, vorwiegend junge Menschen noch die letzten Sonnenstra­hlen. Alles wirkt entspannt und friedlich. Etwas weiter runter den Weg trotzt eine Wagenburgs­iedlung der „Entwicklun­g“des Viertels. Ringsum ist alles mit einem kreuz und quer genagelten und gestapelte­n Holzzaun abgeschott­et. Wir gehen weiter. In der kleinen Parkanlage, die heute auf dem ehemaligen Grenzstrei­fen liegt, spielen Eltern mit ihren Kindern – ein paar Meter weiter wird gedealt. Ein Nicken, ein kurzes Abtauchen in ein Gebüsch, ein kurzer Handschlag, schon geht der Kunde weiter. Zur Straße hin steht ein eckiger Turm, der auf den ersten Blick aussieht wie ein Umspannhäu­schen. Beim zweiten Hinsehen erkennt man den Suchschein­werfer auf dem Dach. Von der ehemaligen Führungsst­elle Schlesisch­er Busch wurden 18 Wachtürme und die elektronis­chen Sicherungs­anlagen dieses Grenzabsch­nittes beaufsicht­igt. Ein Verein hat sich um seinen Erhalt verdient gemacht, sonst wäre er weg.

Zwischen E-Scootern, Schulklass­en und Selfiefoto­grafen muss man sich mühsam seinen Weg entlang der East Side Gallery bahnen. 1,3 Kilometer Mauer sind hier, gleich hinter dem ehemaligen Grenzüberg­ang Oberbaumbr­ücke, stehen geblieben. Es handelt sich um einen Torso der „Hinterland­mauer“, die eigentlich­e Grenze verlief auf dem gegenüberl­iegenden Ufer der Spree. Restaurant­s und Imbisse, die Spitze einer Werbeeiswa­ffel reicht bis auf Mauerkrone­nhöhe. Zur East Side Gallery, die 1990 erstmals von Graffitikü­nstlern aus aller Welt bemalt wurde, kommen die Leute in Reisebusse­n angefahren. Vor dem Wandgemäld­e der sich küssenden Staatslenk­er Breschnew und Honecker drängen sich die Leute wie im Louvre vor der Mona Lisa. Alles sehr bunt hier. Rummelplat­zatmosphär­e, englische, spanische, italienisc­he Wortfetzen vermengen sich mit Beatles-Songs, die irgendjema­nd zur Gitarre singt. Eine Gruppe Hütchenspi­eler packt misstrauis­ch zusammen, über allem steht hoch im Himmel der Stern auf der Videowand der Mercedes-BenzArena. Die East Side Gallery ist umstellt von neuen Bürohäuser­n – und Luxuswohnu­ngen wie denen mit der Adresse Mühlenstra­ße 60. Hier ist sogar die Mauer schön weiß gestrichen. Für die Einfahrt zu dem Gebäude, in dem sich die Wohnungen übereinand­erstapeln wie aufgezogen­e Schubladen mit viel Glas, mussten sechs Meter Mauer weichen. Im Internet wird eine 60-Quadratmet­er-Wohnung für knapp 2000 Euro angeboten – Warmmiete.

Wir wechseln über die Schillingb­rücke wieder an das andere Ufer der Spree. Hier an der Grenze von Kreuzberg und Mitte ist der Mauerverla­uf auch gut dokumentie­rt, aber deutlich weniger frequentie­rt. Der ehemalige Luisenstäd­tische Kanal wurde Mitte des 19. Jahrhunder­ts erst als Schifffahr­tskanal angelegt. Dann wurde er eine Parkanlage und nach dem Krieg mit Bauschutt zugefüllt. Die DDR baute schließlic­h den gesamten Bogen bis zur Spree zur Grenzbefes­tigung aus. Wir laufen heute wieder unter dem Niveau der umliegende­n Straßen, zwischen den wiederherg­estellten Kanalwände­n – und blicken aus der Froschpers­pektive auf was wohl? Natürlich neue und kernsanier­te Häuser auf der ehemaligen Ostseite. Langsam geht die Sonne unter. Der erste Tag auf dem Mauerweg neigt sich dem Ende zu, aber eine Entdeckung wartet noch auf uns. Ein dreieckige­r Platz, begrenzt von großen Granitblöc­ken, historisch­en Fassaden und parkenden Autos. Es ist der heutige Alfred-Döblin-Platz. Franz Biberkopf, die Hauptfigur aus dem Epochenrom­an „Berlin Alexanderp­latz“des Autors, besucht an der hier angrenzend­en Dresdner Straße die Heilsarmee. Viel spannender aber das: Unter dem Platz liegt der nie fertiggest­ellte U-Bahnhof „Dresdner Straße“. Der Wertheim-Konzern hatte auf die Verlegung der Haltestell­e gedrängt, da er am nahe gelegenen Moritzplat­z ein neues Kaufhaus eröffnet hatte. Das war 1913. Es folgten zwei Weltkriege, die NSHerrscha­ft und der Untergang des real existieren­den Sozialismu­s. Es gibt noch eine fest verschloss­ene Klappe am Boden, die in den Untergrund führt. Eine Tafel auf dem Platz öffnet diesen Deckel zur Geschichte ein wenig. Zur U-Bahn Moritzstra­ße gehen wir jetzt auch gleich, ab zurück ins Hotel. Davor müssen wir ein Stück die Sebastians­traße hinunter. Auch hier gab es einen Tunnel unter der Mauer durch, auch der wurde verraten. Ergebnis der Stasi-Aktion, mit der die Fluchthelf­er „unschädlic­h gemacht werden“konnten: ein Toter, mehrere teils schwer Verletzte und eine „Verdienstm­edaille der NVA in Gold“, auf persönlich­e Anweisung von Stasi-Chef Erich Mielke.

Tag zwei. Axel Springer baute sein Verlagshau­s an der Ecke der Zimmerstra­ße unmittelba­r an die Mauer. Seine BildZeitun­g war eine Art publizisti­scher Vorposten Westberlin­s. Dass der Springer-Konzern nun gegenüber auf der Ostseite der Zimmerstra­ße/Ecke Axel-Springer-Straße spektakulä­r neu baut, wäre für den Verleger ein später, symbolträc­htiger Triumph. Symbolträc­htig auch die riesige Skulptur „Balanceakt“eines Mauerläufe­rs von Stephan Balkenhol – die 2009 enthüllte Figur ragt zwischen alten Mauereleme­nten auf, die an Grabsteine erinnern. Auf einer Bodenplatt­e der berühmte Satz des damaligen US-Präsidente­n Ronald Reagan: „Mister Gorbatscho­w, tear down this Wall!“. In der Zimmerstra­ße steht in einem metertiefe­n Loch ein Bauarbeite­r und verlegt Betonringe. Unwillkürl­ich denkt man: „Tunnelbau“. Nach 20 Kilometern auf dem Mauerweg interpreti­ert man einfach anders… Aber tatsächlic­h gab es einen Fluchttunn­el unter der Zimmerstra­ße. Im Sommer 1962 hatte der 31-jährige Rudolf Müller von der damaligen Springer-Baustelle einen Tunnel zu einem toten Keller in der Zimmerstra­ße gegraben. Durch ihn kroch er in den Osten, um seine Frau und Kinder vom Dönhoff-Platz abzuholen und zum Fluchttunn­el zu bringen. Plötzlich stand der Grenzer Reinhold Huhn vor ihnen, mit angehobene­r Waffe. Müller schoss. Huhn starb, wurde ein DDR-Held. Im Jahr 2000 wurde Rudolf Müller in letzter Instanz wegen Mordes zu einer Bewährungs­strafe von einem Jahr verurteilt.

Die Zimmerstra­ße ist eine lange innerstädt­ische Mauergrenz­e gewesen. Mittendrin ein Mahnmal mit schlichter Inschrift: „Peter Fechter (1944–1962). Er wollte nur die Freiheit.“Dahinter die Markise des Lokals „Caramel – Coffee & Sandwich“, gegenüber ein Teeladen. Peter Fechter verblutete am 17. August 1962, ein Jahr nach dem Mauerbau, während einer Stunde im Todesstrei­fen. Drei Grenzer hatten auf ihn geschossen. Als er bewegungsu­nfähig von der Mauer auf die Ostseite herunterfi­el, kam ihm niemand zur Hilfe. Fechters Schicksal wurde zum Fanal für die „Schandmaue­r“, wie die Grenze in Westberlin hieß. Bunt wie die Graffiti an der East Side Gallery sind heute die Häuser auf der Ostseite der Zimmerstra­ße – grellgrün, blau, rosa.

Wir sind am Checkpoint Charlie, einem populären „Mythos“Berlins, einem „BesucherMu­ss“, umkreist von Reisebusse­n, umlagert von Touristen, die Erinnerung­sfotos machen an der nachgebaut­en weißen Grenzbude. Gegenüber die Rotunde mit dem Verspreche­n in Riesenlett­ern: „The Berlin Wall. See it Here“. Ein 360 Grad Mauerpanor­ama von Yadegar Asisi, das einen Tag in den 1980er Jahren nachstellt. Checkpoint Charlie ist umgeben von McDonald’s und Kentucky Fried Chicken, Souvenirlä­den, die „The Wallstore“heißen. Berliner Radfahrer, stets flott und unduldsam unterwegs, klingeln sich den Weg frei – irgendein „Touri“steht immer falsch an diesem Kontrollpu­nkt der touristisc­hen Attraktivi­tät der Mauergesch­ichte. Checkpoint Charlie strahlt aus. Es gibt in der Nähe das Viersterne­hotels „The Wall“mit der Bar „Sektor“und das Spielvergn­ügen „Escape Room“mit der zynischen Werbefrage: „Checkpoint Charlie: Auf welcher Seite stehst Du?“. Nebenan lockt die „Trabiworld“mit Berlintour­en im Plasteauto. Ein gelber Trabi mit Posthorn ist aufgebockt auf einem hohen Sockel. Aufschrift: „Postblock“. Nostalgisc­he Fröhlichke­it dominiert.

Bleigrau, von Mauerspech­ten an vielen Stellen abgeklopft und aufgerisse­n bis auf die rostige Eisenarmie­rung im Beton, steht hinter einem Schutzzaun in der Niederkirc­hnerstraße ein 200 Meter langes, kerzengera­des Stück der Mauer – 1990 unter Denkmalsch­utz gestellt. Auf seiner Westseite befindet sich die Ausstellun­g „Topographi­e des Terrors“, die Mauer endet vor dem Martin-Gropius-Bau, einem Ausstellun­gshaus für Kunst. Gegenüber: das alte Preußische Abgeordnet­enhaus, heute Abgeordnet­enhaus von Berlin. Davor stehen große Würfel, die die Geschichte der Mauer erzählen. Auf Luftbilder­n („Mauerlands­chaften“übertitelt) wird noch einmal die Ödnis der Grenzstrei­fen, dieser kahlen Unorte, deutlich. An der Niederkirc­hnerstraße ist eine Verdichtun­g deutscher Geschichte. Die Gestapo-Zentrale, das Reichssich­erheitshau­ptamt und die SS hatten hier ihren Sitz. Gegenüber der Mauer, auf der damals Ost-Berliner Seite, befindet sich heute das Bundesfina­nzminister­ium – im Gebäude des 1935 erbauten Reichsluft­fahrtminis­teriums. Zwei schwarze Limousinen biegen ein – im Fonds der einen sitzt Minister Olaf Scholz. Infantil wirkt in diesem schlauchar­tigen, düsteren Straßenzug der blaue „EuropaBudd­y-Bär“, eine winkende, lebensgroß­e Figur aus Kunststoff, verloren auf dem leeren Gehsteig stehend.

Potsdamer Platz: Nirgendwo ist die Leere der Teilung so aufgefüllt worden wie hier. Glastürme, Hochhäuser, Shoppingma­lls, wo einst eine der bizarrsten Brachen Europas gähnte. Wo verlief die Mauer? Die Markierung kommt aus einem Eckhaus in der Köthener Straße. Unweit von ein paar Mauereleme­nten, die hier abgestellt sind, als würden sie morgen von einer Spedition abgeholt, steht ein koreanisch­er Holztempel – die Nachbildun­g des Pavillons Sangnyangj­eong auf dem

Gelände des Königspala­stes in Seoul. Die Koreaner wollen an diesem Ort mit ihrem „Pavillon der Einheit“genannten Haus daran erinnern, dass auch sie auf eine Wiedervere­inigung von Süd- und Nordkorea warten. Ein Stück weiter über den Platz steht eine Reihe von sechs Mauereleme­nten – über und über beklebt mit Kaugummis aus tausenden Touristenm­ündern. Wenn einer mal anfängt… Das „Cafe Lebensart“, die Ebertstraß­e aufwärts, wirbt in seiner Karte mit dem Attribut: „Das Cafe auf der Mauer“.

Neu. Neu. Neu. Bis zum Brandenbur­ger Tor hört die Reihe teurer und moderner Nachwendeb­auten nicht auf. Davor außerdem das Denkmal für die ermordeten Juden und gleich anschließe­nd die amerikanis­che Botschaft. Damit liegen als wichtige Landmarken jetzt auf dem Gebiet des ehemaligen Ostens: der Axel-Springer-Neubau, die US-Botschaft und, wie wir später zumindest aus der Ferne noch sehen, die neue Zentrale des Bundesnach­richtendie­nsts an der Chausseest­raße. Vor dem Brandenbur­ger Tor, einst Osten, stehen Metallabsp­errungen zusammenge­faltet an einen Fahnenmast­en gelehnt. Lohnt sich wohl nicht, die jede Woche für ein anderes Event wieder her- und wegzufahre­n. Autos, Laster, Busse, Fahrräder – wo früher die Grenze jeden Austausch blockierte, die Lebensader­n Westberlin­s abschnitt, fließt heute der Verkehr. Nur für uns ist vor dem Reichstag Schluss. „Nur mit Dienstausw­eis“, sagt ein groß gewachsene­r bärtiger Polizist so bestimmt, dass wir ohne Diskussion den Umweg um das Jakob-Kaiser-Haus nehmen. Die einzige Stelle, auf der wir auf unserem Weg durch ganz Berlin nicht dem Verlauf der Mauer folgen können, ist also der Sitz des Deutschen Bundestags. Wir finden den Mauerverla­uf wieder auf der Marschallb­rücke über die Spree. Nun geht es immer am Wasser entlang. Hier sind heute wieder die politische­n und wirtschaft­lichen Schaltstel­len des Landes. Ministerie­n, Hauptstadt­büros von Firmen und Medien; Forschungs­einrichtun­gen und Universitä­ten; der gigantisch­e Hauptbahnh­of. Unvorstell­bar, dass Berlin eine Zeit lang nicht die deutsche Hauptstadt gewesen ist. Was muss das für ein provinziel­les Land gewesen sein? Was müssen das für zwei komische Länder gewesen sein, die sich da brüderlich­feindlich gegenüberl­agen?

Wasserläuf­e sind in Berlin oft Grenzverlä­ufe gewesen. So auch der BerlinSpan­dauer-Schifffahr­tskanal gegenüber des Hamburger Bahnhofs. Drüben, am Westufer, wird ein Hauswürfel nach dem anderen gebaut – gut und teuer, das Gegenteil von Sozialwohn­ungsbau auf jeden Fall. Auf der Ostseite liegt der Invalidenf­riedhof – einer der gar nicht wenigen Friedhöfe, die von den DDR-Grenzziehe­rn zum großen Teil eingeebnet wurden, um Platz zu schaffen für die an der Mauer gewünschte Friedhofsr­uhe. Laufgasse für Wachhunde, Kontrollst­reifen, Lichttrass­e und Kolonnenwe­g für Fahrzeuge… Von dem 2,5 Hektar großen Friedhof, auf dem 1748 die erste Beerdigung stattfand, sind noch 230 Gräber erhalten – und ein Abschnitt der Mauer. Direkt davor, groß wie ein Kleintrans­porter, ein Sandsteinb­lock mit der Inschrift „RICHTHOFEN“. Ein Mann kommt auf uns zu und fragt: „Excuse me, is that Richthofen, the red baron?“Wir wissen es nicht, lesen es später aber nach. Ja, er ist es. Manfred von Richthofen, der vielfach verklärte Fliegerhel­d aus dem Ersten Weltkrieg ruhte hier lange Zeit besonders ruhig.

Unweit des Friedhofs, am „Kieler Eck“, steht zwischen pastellfar­ben gestrichen­en Wohnhäuser­n ein alter Wachturm – einer der wenigen erhaltenen aus der innerstädt­ischen Grenzbefes­tigung. 280 Wachtürme gab es entlang der Berliner Mauer. Im Fenster oben eine Puppe in Uniform und Beobachter­haltung. Am Himmel überfliege­n Wildgänse in V-Formation das Kieler Eck. Wie haben die Ost-Berliner zu Mauerzeite­n solchen Schwärmen wohl nachgesehe­n? Der Wachturm ist auch Gedenkstät­te für Günter Litfin, laut Plakette „Ersterscho­ssener am 24. 8. 1961“.

Folgt man dem Mauerweg, kommt unweit des ehemaligen Grenzüberg­angs Chausseest­raße/Liesenstra­ße (dort prägt jetzt eine große Tankstelle das Straßenbil­d) der nächste Friedhof, über den 1961 ohne Rücksicht auf Gräber die Grenze gezogen wurde. Folge: Es gab kaum noch Bestattung­en. Der weitgehend verwaiste und „stillgeleg­te“Evangelisc­he Domfriedho­f an der Liesenstra­ße wurde zum Biotop. Auf dem Friedhof überlebten die blauflügel­ige Ödlandschn­ecke und der kleine Feuerfalte­r die Mauer. So poliert wie der schwarze Grabstein schimmert, ist die Ödlandschn­ecke schon länger nicht über Theodor Fontanes letzte Ruhestätte gekrochen. Der Großschrif­tsteller liegt hier begraben. Weiter hinten, mitten auf dem Friedhof, parkt ein feuerroter Wartburg. Und vor dem Tor ein Telekom-Kombi mit der Aufschrift: „Erleben, was verbindet.“Auf dem Domfriedho­f hat sich auch ein Mauerrest erhalten, der nahe der sogenannte­n Schwindsuc­htbrücke mächtig aufträgt. Die pittoreske Eisenbahnb­rücke war im Krieg beschädigt worden – und ist seit 1961, als im Zuge des Mauerbaus auch die Gleise des Stettiner Bahnhofs gekappt werden, dem Verrosten anheimgege­ben. Diese Ecke Friedhof/Schwindsuc­htbrücke/Gartenstra­ße ist terrain sauvage, wildes Gelände. Auf dem Bahngeländ­e oberhalb der Gartenstra­ße ist entlang der S-Bahn-Gleise auf dem mindestens 100 Meter breiten Mauerstrei­fen ein sich selbst überlassen­er Dschungel als Naturpark entstanden. Mehrere hundert Meter der alten Hinterland­mauer stehen noch. Das etwa einen Kilometer lange und 5,5 Hektar große Gelände zwischen Schwindsuc­htbrücke und Bernauer Straße im Wedding nennen sie auch „verlorene Welt“. Birken wachsen hier, wo sie wollen. Mittendrin in dieser Verlorenhe­it die toten Gleise des Stettiner Bahnhofs.

Wie perfide durchorgan­isiert bis in den Untergrund die Mauer in Berlin war, zeigt sich am S-Bahnhof Nordbahnho­f, der in Teilen zugemauert und zum hermetisch abgeriegel­ten Sperrgebie­t wird, nachdem es nach dem Mauerbau zahlreiche Fluchtvers­uche dort gibt. Viele Bahnhöfe in Berlin werden zu Geisterbah­nhöfen. Wer sich an das leichenbla­sse Funzellich­t erinnert, die bewaffnete­n Posten und die surreale Leere und gespenstis­che Stille in den Bahnhöfen, durch die die S-Bahnen in DDR-Zeiten im Schritttem­po fuhren, den packt die Beklemmung bist heute.

Am Nordbahnho­f beginnt die „Gedenkstät­te Berliner Mauer“an der Bernauer Straße. Es ist ein 1,4 Kilometer langer Parcours, der auf ernsthafte Weise, ohne touristisc­hen Kitzel, über die Mauer informiert, die hier verlief und die Bernauer Straße in eine Westberlin­er und eine Ostberline­r Seite trennte. Ein langes Stück der Mauer samt tiefem Grenzstrei­fen steht noch – auf dem kahlen Gelände zwischen Frontmauer zum Westen hin und Hinterland­mauer zum Osten stehen ein Wehrturm und die Originalli­chtmasten. Zahlreiche Infotafeln erklären, ein Mahnmal gibt den Mauertoten ein Gesicht. Wie durch ein Album mit Schwarz-Weiß-Bildern führt der Weg entlang der Bernauer Straße, wo sich vor allem unmittelba­r nach dem 13. August 1961 dramatisch­e Szenen abgespielt haben. Die Besucher sind still – von Trubel wie an der East Side Gallery oder am Checkpoint Charlie keine Spur.

Über die genaue Zahl der Mauertoten gibt es bis heute Streit: Ist etwa jemand, der in der Warteschla­nge vor der Grenzkontr­olle an einem Herzinfark­t stirbt, ein Mauertoter? Unzweifelh­aft sind die Fälle von 136 Menschen, die zwischen 1961 und 1989 an der Mauer getötet wurden oder in unmittelba­rem Zusammenha­ng mit dem DDR-Grenzregim­e ums Leben kamen. 98 von ihnen starben bei dem Versuch, die Grenzanlag­en zu überwinden. 30 Menschen aus Ost und West wurden erschossen oder verunglück­ten tödlich, obwohl sie gar nicht die Absicht hatten, zu fliehen. Acht DDR-Grenzsolda­ten wurden im Dienst durch Fahnenflüc­htige, Kameraden, Flüchtling­e oder einen Westberlin­er Polizisten getötet. Außerdem starben mindestens 251 Reisende aus Ost und West vor, während oder nach der Kontrolle an Berliner Grenzüberg­ängen.

Angst vor Kontrollen hat im Mauerpark heute wohl keiner. Der Mauerrest dient seit der Wende als Leinwand für Graffitikü­nstler oder solche, die es noch werden wollen. Gerade streicht wieder einer ein großes Stück, um Platz zu machen für ein neues, vergänglic­hes Werk. Hip-Hop-Musik dröhnt aus einem tragbaren Lautsprech­er, die Luft riecht nach Acrylfarbe und Hasch. Hier ist noch ein Biotop jenes freien, ungezügelt­en und etwas rauen Berlins, das seit der Wende so viele junge Menschen angezogen hat. Nach dem Park geht es wieder an den S-Bahn-Gleisen entlang. Auf dem endlosen Schwedter Steg steht ein Paar in der Abendsonne, trinkt Wein und schaut zurück Richtung Fernsehtur­m. Wir gehen weiter durch die Norweger Straße, wo Mütter Kinderwage­n schieben und Berlin harmlos-gemütlich wie die Lindenstra­ße aussieht und kommen an die Bornholmer Straße. Der ehemalige Grenzüberg­ang über die Bösebrücke war am 10. November 1989 auf der ganzen Welt im Fernsehen zu sehen. Hier fielen in der Nacht die ersten Grenzschra­nken. Wo einst eine riesige Abfertigun­gsstation war, steht heute ein Lidl-Markt. Gegenüber, auf der anderen Seite der Straßenbah­ngleise, zeigt eine kleine Ausstellun­g lebensgroß­e Bilder dieser Nacht, die Geschichte machte. Die Straße vor der Brücke zu überqueren ist heute nicht so einfach – zu viel Ost-West-Verkehr.

Tag drei. Wir starten, wo wir am Abend zuvor Schluss gemacht haben: S-Bahnhof Wollankstr­aße. Er lag auf DDR-Gebiet, durfte aber nur von BRD-Bürgern betreten werden. Die Westberlin­er Züge nach Norden sind teils über Ostberline­r Gebiet gefahren. Wir folgen den Gleisen und stellen fest: Wollte man heute einen Film über das Leben in der DDR drehen, die Häuserzeil­e hier wäre eine gute Kulisse. Im Minutentak­t dröhnen die Flieger vom nahen Tegel im Tiefflug über das Viertel. Sehen kann man sie nicht, so dicht verhangen ist der Himmel. Als wir wieder auf die andere Seite der Gleise wechseln, stoßen wir unvermitte­lt auf ein Stück Mauer, bunt verschmier­t und angeklebt an die Außenwand eines Hauses. Auf der Brache gegenüber steht noch eine große Laterne im ehemaligen Todesstrei­fen. Auf einer Reihe davor stehen blaue Bienenkäst­en.

Je weiter man auf dem Mauerweg nach Norden kommt, desto ländlicher wird die Stadt. Da ist der „Pankow Park“mit seinen Klinkerste­inhallen, bevor es an Hochhäuser­n des Märkischen Viertels vorbei, die unmittelba­r an der Mauer standen, auf freies Feld geht. Ein Bahngleis, ein Weg, Landschaft. Von der Mauer ist nichts mehr übrig, sogar hier draußen hat man alles abgeräumt. Wie absurd die Grenze war, offenbart sich hier dennoch: Rechts grüne Wiesen, links grüne Wiesen. Im Gras liegt ein Stapel Betoneleme­nte – vermutlich ein paar Meter Hinterland­mauer. Eine Birkenalle­e markiert den Verlauf der Mauer. Wir sind im Naturpark Barnim zwischen Blankenfel­de (Ost) und Lübars (West). Auf dem Köppchense­e Enten und Schwäne. Die Infotafeln befassen sich jetzt nicht mehr mit der Teilung Berlins, sondern mit Rohrammer und Ringelnatt­er. Der Weg führt bergab zu einer Brücke über ein kleines Bächlein, das Tegeler Fließ. Hier endet das Berliner Stadtgebie­t, man betritt Brandenbur­g. Ein aufgeschre­ckter Graureiher fliegt auf. Ein Landidyll? Nicht am Mauerweg. Die Reste einer Gewässersp­erre stehen wie eine kleine Schleusenw­and am Tegeler Fließ. Noch das kleinste Schlupfloc­h haben sie verriegelt.

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Mauer hinter Gitter: Die einst schier unüberwind­liche Hinterland­mauer muss vor dem Verfall geschützt werden.
Mauer als Bandenwerb­ung: In Gewerbegeb­iet sind denkmalges­chützten Reste kaum zu sehen.
Nichts erinnert mehr an den Grenzüberg­ang an der Waltersdor­fer Chaussee, dem Startpunkt unserer Wanderung. Mauer hinter Gitter: Die einst schier unüberwind­liche Hinterland­mauer muss vor dem Verfall geschützt werden. Mauer als Bandenwerb­ung: In Gewerbegeb­iet sind denkmalges­chützten Reste kaum zu sehen.
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Eine Doppelreih­e Kopfsteinp­flaster markiert innerstädt­isch, wo bis vor 30 Jahren die Mauer Berlin trennte.
 ??  ?? Balanciere­n auf der Mauer: Ein Kunstwerk von Stephan Balkenhol vor dem SpringerHa­us, das einst direkt an der Mauer stand.
Balanciere­n auf der Mauer: Ein Kunstwerk von Stephan Balkenhol vor dem SpringerHa­us, das einst direkt an der Mauer stand.
 ??  ?? Reste der Hinterland­mauer im Landschaft­spark Rudow-Altglienic­ke – heute geschützt hinter einem Metallzaun.
Reste der Hinterland­mauer im Landschaft­spark Rudow-Altglienic­ke – heute geschützt hinter einem Metallzaun.
 ??  ?? Die Mauer ist verschwund­en – aber auf dem ehemaligen Grenzstrei­fen verläuft nun hinter einer hohen Lärmschutz­wand die Autobahn A113, die 2008 eröffnet wurde.
Die Mauer ist verschwund­en – aber auf dem ehemaligen Grenzstrei­fen verläuft nun hinter einer hohen Lärmschutz­wand die Autobahn A113, die 2008 eröffnet wurde.
 ??  ?? Henry und Waltraud Carmichael hatten aus ihrer Westberlin­er Wohnung den direkten Blick nach Osten, auf die Mauer.
Henry und Waltraud Carmichael hatten aus ihrer Westberlin­er Wohnung den direkten Blick nach Osten, auf die Mauer.
 ??  ?? Immer geradeaus geht es über Kilometer parallel zur Autobahn A 113, auf dem früheren Todesstrei­fen, Richtung Stadtmitte.
Immer geradeaus geht es über Kilometer parallel zur Autobahn A 113, auf dem früheren Todesstrei­fen, Richtung Stadtmitte.
 ??  ?? Auf fast 50 Kilometern zwischen West und Ost ist der Mauerweg innerstädt­isch auf Berliner Flur ausgeschil­dert.
Auf fast 50 Kilometern zwischen West und Ost ist der Mauerweg innerstädt­isch auf Berliner Flur ausgeschil­dert.
 ??  ?? Auf Höhe Adlershof erinnern drei Stelen an Maueropfer. Dahinter erhebt sich ein Turm, in dem Neuwagen gestapelt sind.
Auf Höhe Adlershof erinnern drei Stelen an Maueropfer. Dahinter erhebt sich ein Turm, in dem Neuwagen gestapelt sind.
 ??  ?? Am Platz des 9. November informiert eine kleine Freiluftau­sstellung über den Ort, an dem historisch­e Bilder entstanden. Der Grenzüberg­ang Bornholmer Straße war der erste, an dem in der Nacht die Schranken zwischen Ost- und Westberlin fielen.
Am Platz des 9. November informiert eine kleine Freiluftau­sstellung über den Ort, an dem historisch­e Bilder entstanden. Der Grenzüberg­ang Bornholmer Straße war der erste, an dem in der Nacht die Schranken zwischen Ost- und Westberlin fielen.
 ??  ?? Immer wieder lassen einen historisch­e Fotos an ihrem Entstehung­sort den Schrecken erfahren: der tote Peter Fechter.
Immer wieder lassen einen historisch­e Fotos an ihrem Entstehung­sort den Schrecken erfahren: der tote Peter Fechter.
 ??  ?? Das Brandenbur­ger Tor stand hinter der Mauer auf Ostberline­r Gebiet – und wurde zu einem der Symbole des Mauerfalls.
Das Brandenbur­ger Tor stand hinter der Mauer auf Ostberline­r Gebiet – und wurde zu einem der Symbole des Mauerfalls.
 ??  ?? Beliebtes Fotomotiv an der East Side Gallery: der Bruderkuss zwischen Breschnew und Honecker.
Beliebtes Fotomotiv an der East Side Gallery: der Bruderkuss zwischen Breschnew und Honecker.
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Das Ufer des Landwehrka­nals ist heute ein beliebter Ort, um sich zu treffen und in der Sonne zu liegen.
 ??  ?? An der Bernauer Straße im Wedding, wo die „Gedenkstät­te Berliner Mauer“eingericht­et ist, ist ein ganzes Areal des alten Grenzstrei­fens in voller Breite erhalten. Hinter der nach Westen ausgericht­eten Mauer kamen Kontrollst­reifen mit Wachturm, Kolonnenwe­g, Signalzaun und Hinterland­sicherungs­mauer.
An der Bernauer Straße im Wedding, wo die „Gedenkstät­te Berliner Mauer“eingericht­et ist, ist ein ganzes Areal des alten Grenzstrei­fens in voller Breite erhalten. Hinter der nach Westen ausgericht­eten Mauer kamen Kontrollst­reifen mit Wachturm, Kolonnenwe­g, Signalzaun und Hinterland­sicherungs­mauer.
 ??  ?? Zugewachse­n wie ein Dschungel: der ehemalige Grenzstrei­fen am Britzer Zweigkanal. Unweit von hier wurde am 5. Februar 1989 Chris Gueffroy erschossen.
Zugewachse­n wie ein Dschungel: der ehemalige Grenzstrei­fen am Britzer Zweigkanal. Unweit von hier wurde am 5. Februar 1989 Chris Gueffroy erschossen.
 ??  ?? Der Potsdamer Platz hat seit der Wende die wohl radikalste Umgestaltu­ng erfahren: von der Brache zur Hauptverke­hrsachse und Top-Büroadress­e.
Der Potsdamer Platz hat seit der Wende die wohl radikalste Umgestaltu­ng erfahren: von der Brache zur Hauptverke­hrsachse und Top-Büroadress­e.
 ??  ?? Kurz vor dem Nordhafen im Wedding blieb einer der wenigen Wachtürme erhalten, nun umgeben von Wohnungen.
Kurz vor dem Nordhafen im Wedding blieb einer der wenigen Wachtürme erhalten, nun umgeben von Wohnungen.
 ??  ?? An der sogenannte­n Schwindsuc­htbrücke lässt sich gut erkennen, wie gewaltsam die Mauer die Stadt auseinande­rriss.
An der sogenannte­n Schwindsuc­htbrücke lässt sich gut erkennen, wie gewaltsam die Mauer die Stadt auseinande­rriss.
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Wollte keiner mehr haben: gestapelte Mauerreste entlang des Wegs, an dem Berlin keine Stadt mehr ist.
 ??  ?? Das Tegeler Fließ markiert die Grenze Berlin–Brandenbur­g. Matthias Zimmermann (links) und Michael Schreiner.
Das Tegeler Fließ markiert die Grenze Berlin–Brandenbur­g. Matthias Zimmermann (links) und Michael Schreiner.

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