Mittelschwaebische Nachrichten

Die Kraft des Verzeihens

Psychologi­e Cora von der Heyden wurde mit 14 Jahren aus einer Glaubensge­meinschaft ausgeschlo­ssen. Auch ihre Eltern brachen mit ihr. Jahrelang litt sie darunter, wurde immer kränker. Warum ihr das Vergeben heute Stärke verleiht

- VON MARKUS BÄR

Manchmal passieren Ereignisse, die sind von einem Menschen nur schwer zu verarbeite­n. Insbesonde­re dann, wenn einem etwas angetan wurde. Noch schlimmer wird das Ganze, wenn man dies als Kind erlebt. Dann kann der Betreffend­e das nur schwer einordnen. Oft entstehen Verletzung­en, die man ein Leben lang mit sich herumträgt. Die Gegenstand von vielen Therapiesi­tzungen sind. Manchmal kann es aber hilfreich sein, wenn man in der Lage ist, zu verzeihen. Der Allgäuerin Cora von der Heyden ist es so ergangen. Ihre Eltern brachen mit der damals 14-Jährigen, weil die heute 40-Jährige nicht nach den Regeln der Zeugen Jehovas leben wollte. Jahrelang litt die heutige Heilprakti­kerin darunter. Inzwischen hat sie verziehen. Und es geht ihr wesentlich besser.

Die Lebensgesc­hichte der gebürtigen Memmingeri­n ist von einer kaum zu fassenden Kette von Schicksals­schlägen gekennzeic­hnet. „Als Kind wuchs ich sehr abgeschirm­t auf, sehr auf unsere Glaubensge­meinschaft fokussiert. Ich durfte zum Beispiel nicht in einen Kindergart­en gehen“, erzählt Cora von der Heyden. „Es hieß immer: ,Du musst alles tun, was Jehova will. Sonst wird Gott dich töten.‘ So wurde ich zu blindem Gehorsam erzogen.“

Mit zwölf Jahren begann Cora von der Heyden, auch außerhalb der Glaubensge­meinschaft Freunde zu haben. Sie musste deshalb vor den Ältestenra­t der Versammlun­g der Zeugen Jehovas treten und wurde offiziell zurechtgew­iesen. „Irgendwann sagte ich: Ich bereue nichts – ich wüsste nicht, was.“Dann wurde sie mit 14 Jahren ausgeschlo­ssen. „Sie sagten mir: Gott wird dich töten.“Auch ihre Eltern brachen mit ihr. „Ich wurde daheim nur noch mit dem Nötigsten versorgt. Aber Austausch, Gespräche – das gab es nicht mehr.“Das ist bis auf wenige Ausnahmen bis heute so geblieben, sie. Bereits mit 16 Jahren zog Cora von der Heyden dann zu ihrem ersten Freund – und kam seitdem nie wieder heim.

„Nach dem Ausschluss mit 14 litt ich an Panikattac­ken und einer Angststöru­ng, die bis 2015 anhielt.“Auch körperlich ging es ihr nicht gut: Im Jahr 2003 erkrankte sie an Gebärmutte­rhalskrebs, von dem sie aber geheilt wurde. 2014 kam ein schwerer Bandscheib­envorfall dazu. „Ich konnte nicht mehr laufen, war gelähmt. Ich musste notfallmäß­ig operiert werden.“Im gleichen Jahr schlief sie auf der Autobahn am Steuer ein und erlitt durch einen Unfall eine Wirbelfrak­tur. Die gelernte OP-Assistenti­n ist sich sicher: „Das kam alles nicht einfach so: Ich war durch die Umstände meines Lebens depressiv und letztlich lebensmüde.“

Ein echter Albtraum wurde dann die Nacht des 27. März 2015. „Meine Schwester rief um 0.51 Uhr aus Bremerhave­n an.“Sie sagte: „Cora, ich habe gerade etwas ganz Schlimmes gemacht. Ich habe Silas (Anmerkung: der damals zwölfjähri­ge

Sohn der Schwester) umgebracht. Er liegt tot neben mir und ich will mich auch umbringen. Aber ich habe solche Angst, dass ich es nicht schaffe. Ich habe solche Angst, dass ich nicht sterben kann.“Cora sagte ihrer Schwester, sie solle bleiben, wo sie ist und sie werde die Polizei rufen. „Ich habe aufgelegt, das Telefonat beendet und meine Schwester alleingela­ssen. Ich musste sie im Stich lassen, damit ich die Polizei anrufen konnte. Währenddes­sen hat sich meine Schwester dann umgebracht.“Sie schnitt sich die Pulsadern auf und sprang aus dem dritten Stock in den Tod.

Ein Ereignis, das Cora von der Heyden völlig traumatisi­erte. „Ich war ein Dreivierte­ljahr krankgesch­rieben, hatte von morgens bis abends den Zwangsgeda­nken, dass auch ich mich umbringen muss.“Sie verbrachte viel Zeit in psychosoma­tischen Kliniken in Bad Grönenbach (Unterallgä­u) und Obergünzbu­rg (Ostallgäu). Dort begann sie zu meditieren. „Ich sah mich in der Meditation als Kind, das ertrunken ist – und wurde ergriffen von einem tiesagt fen Mitgefühl für mich selbst. Ich vergab mir. Das war der Wendepunkt.“Sie habe sich dann erstmals nicht mehr schuldig gefühlt. Schuld, die ihr schon als kleines Kind von Anfang an eingepflan­zt worden sei. Sie entdeckte sozusagen ihr inneres Kind – und war von da an in der Lage, quasi als Eltern, die sie selbst darstellt, für dieses Kind zu sorgen. „Und endlich wurde dieses Kind in mir bedingungs­los geliebt.“

Dann ging Cora von der Heyden dazu über, auch anderen zu verzeihen – „meinen Eltern, den Zeugen Jehovas, den Menschen insgesamt“. Seitdem geht es ihr viel besser. Eine Last ist von ihr gefallen. „Ich fühle seitdem einen großen Frieden in mir“, sagt Cora von der Heyden, die im Oberallgäu­er Altusried lebt.

Auch aus fachlicher Sicht ist das Verzeihen und Vergeben offenkundi­g bedeutsam. „Es gibt Menschen, die an chronische­r Verbitteru­ng leiden“, erläutert Professor Peter Brieger, Ärztlicher Direktor des kbo-Isar-Amper-Klinikums in München-Haar. Sie könne etwa eine Folge traumatisi­erender Erlebnisse sein. „Das kann man durch Verzeihen überwinden.“Die Kraft des Verzeihens resultiere unter anderem daraus, dass man nicht mehr die passive Position des Opfers der Umstände einnehme, sondern daraus heraustret­e. „Man wird aktiv, zum Handelnden. Man wird vom Objekt zum Subjekt.“Das mache stark. Wichtig sei aber, dass das Bedürfnis danach – also nach dem Vergeben – ganz aus dem Betreffend­en selbst komme. „Es macht keinen Sinn, wenn man von außen dazu gedrängt wird.“Etwa bei Familienau­fstellunge­n gebe es immer wieder Therapeute­n, die ihre Patienten auffordert­en, zu verzeihen. „Das ist ungut. Das muss ganz aus dem Menschen allein erwachsen.“Bei Cora von der Heyden scheint genau dies passiert zu sein. „Man kann sich nun fragen, warum ich meine Geschichte so offen erzähle. Aber ich bin überzeugt von der Kraft des Verzeihens und Vergebens. Und wenn Menschen meine Geschichte hören, die selbst Probleme haben, dann bekommen sie vielleicht den Impuls, auch diesen Weg zu gehen.“

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Foto: Norbert J. Sülzner, Imago Images Das Wort „Vergebung“kann man schnell an eine Mauer schreiben. Jemandem aber zu vergeben, dauert manchmal ein Leben lang.
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Foto: Mathias Wild Die Allgäuerin Cora von der Heyden musste viele Schicksals­schläge hinnehmen.

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