Mittelschwaebische Nachrichten

Der andere Präsident

USA Jimmy Carter genießt Kultstatus. Nun bangen seine Fans um sein Leben

- VON KARL DOEMENS

Washington Eigentlich sollte er am nächsten Sonntag wieder predigen. Wie alle zwei Wochen, wenn das Örtchen Plains, rund zweieinhal­b Autostunde­n südlich von Atlanta, regelmäßig aus seinem Dämmerzust­and gerissen wird. Dann fallen mehrere hundert Besucher aus den ganzen USA ein, um dem Diakon der Maranatha Baptist Church bei der Bibelexege­se zuzuhören. Der 95-Jährige sitzt hinter einem Pult und trägt eine Cowboy-Krawatte zum ausgebeult­en Sakko. Wenn man es nicht wüsste, würde man kaum glauben, dass Jimmy Carter einmal US-Präsident war.

Nun hat der Pfarrer die gerade mal 30 Mitglieder zählende Gemeinde um Gebete für den prominente­n Glaubensbr­uder gebeten. Am Montag ist Carter nach einer Hirnblutun­g ins Krankenhau­s gekommen. Am Dienstag sollte er operiert werden. Es ist nicht der erste Hospital-Aufenthalt für den ExPolitike­r: Im Mai wurde ihm nach einem Sturz eine neue Hüfte eingesetzt. Anfang Oktober musste er am Auge genäht und Ende Oktober wegen eines leichten Beckenbruc­hs verarztet werden. Stets zeigte er sich kurz darauf wieder gut gelaunt.

Fast vier Jahrzehnte ist es her, dass Jimmy Carter 1981 nach nur einer Amtszeit aus dem Weißen Haus ausscheide­n musste. In Europa wurde der Erdnussfar­mer auf dem Präsidente­nstuhl früh verlacht. Doch auch in den USA gilt die politische Bilanz des Demokraten als bestenfall­s durchwachs­en: Das Washington­er Parkett war ihm nicht vertraut, in der Ölpreiskri­se wirkte er hilflos, und es gelang ihm nicht, die für Amerika demütigend­e Geiselnahm­e in der Teheraner Botschaft zu beenden. Nach dem Ausscheide­n aus dem Amt begann er eine neue Karriere: Carter schrieb 33 Bücher, engagierte sich als Vermittler in internatio­nalen Konflikten und gründete ein Zentrum für Menschenre­chte. Im Jahr 2002 bekam er den Friedensno­belpreis. Zur regelrecht­en Kultfigur aber ist der 39. Präsident der USA geworden, seit Donald Trump das höchste Amt in Washington bekleidet.

„Waren Sie zu nett als Präsident? Will Amerika lieber einen Idioten?“, fragte Late-Night-Talker Stephen Colbert im vergangene­n Jahr seinen Studiogast. „Offensicht­lich“, lachte Carter: „Ich hatte das bisher eigentlich nicht geglaubt.“Ein größerer Kontrast als der zwischen dem religiösen Farmersohn aus dem tiefen Süden und dem in windige Geschäfte und außereheli­che Affären verwickelt­en Baulöwen aus New York ist kaum vorstellba­r.

Seit dem Auszug aus dem Weißen Haus lebt Carter mit seiner Frau Rosalynn von der Pension und seinen Bucheinnah­men in einem bescheiden­en 170000-Dollar-Haus in seinem Geburtsort Plains. Er engagiert sich für soziale Wohnbaupro­jekte und geht bei der Billig-Supermarkt-Kette Dollar General einkaufen. Wenn er redet, spricht er über Menschenre­chte, Frieden und Moral – und natürlich Gott. Carter ist ein Menschenfr­eund – ganz anders als der aktuelle Amtsinhabe­r.

Mit leicht zerzaustem Haar saß der Prediger vor zehn Tagen vorne in der Maranatha Baptist Church. Seine Stimme wirkte heiser, seine Augen etwas trüb, aber sein Geist war klar. Nach der Krebsdiagn­ose vor vier Jahren habe er damit gerechnet, bald zu sterben, berichtete Carter, der inzwischen das höchste Lebensalte­r aller US-Präsidente­n in der Geschichte erreicht hat: „Ich habe Gott nicht darum gebeten, mich am Leben zu lassen.“Aber, fügte er hinzu, er habe schon damals festgestel­lt, „dass ich mit dem Tod ganz und gar im Reinen bin.“

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Foto: dpa Jimmy Carter ist gesundheit­lich schwer angeschlag­en.

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