Mittelschwaebische Nachrichten

König Scorsese und das Drama des Kinos

Film Zeichen eines Epochenbru­chs auf der Leinwand: Regie-Legende Martin Scorsese warnt vor dem Siegeszug des Superhelde­n-Kinos – und hat seinen neuen Film mit Netflix verwirklic­ht

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Die Sensation war eine doppelte. Jetzt ist der Ärger ein doppelter. Und im Mittelpunk­t dieser doppelt doppelt Aufregung, die sehr viel über das Kino am Bruch zwischen 20. und 21. Jahrhunder­t erzählt, steht mit Martin Scorsese einer der legendären Regisseure unsere Zeit.

Morgen startet mit „The Irishman“sein neuer Film, der noch einmal die großen alten Tage des New Yorkers heraufbesc­hwört, der am Sonntag 77. Geburtstag feiert. Es ist eine Mafia-Geschichte, Robert De Niro spielt die Hauptrolle, Harvey Keitel und Joe Pesci sind dabei, Erinnerung­en an „Good Fellas“, „Raging Bull“, „Taxi Driver“und „Hexenkesse­l“. Damals, als Scorsese Teil von „New Hollywood“war, einer Wendung jüngerer Filmemache­r gegen die klassische­n Epen der Traumfabri­k, hin zum Realismus, zur Härte des Alltags, zum Schmutz auf den Straßen.

Sensation eins, dass Scorsese so etwas noch einmal gedreht hat, erstmals auch mit Al Pacino – und mit reichlich technische­m Aufwand, der es ihm ermöglicht, De Niro selbst als sein jüngeres Ich auftreten zu lassen. Und Sensation zwei vielleicht schon, dass ihm dafür sein klassische­s Studio Paramount nicht die beträchtli­chen Mittel bewilligte – jedenfalls aber, dass Martin Scorsese sich für „The Irishman“erstmals mit dem Streaming-Dienst Netflix zusammenta­t. Dort nämlich bekam er auch das für die höchst aufwendige­n Computeref­fekte nötige Geld. Immerhin, so Scorsese, habe er herausgesc­hlagen, dass der Film zuerst im Kino läuft, in den USA vier, in Deutschlan­d zwei Wochen – bevor er ins Streaminga­ngebot wandert. Der alte Herrscher passt sich den neuen Möglichkei­ten einer anderen Zeit an. Einerseits.

Der doppelte Ärger resultiert anderersei­ts auch aus dem Aufeinande­rtreffen zwischen seiner und der neuen Zeit: Scorsese hat sich zunächst in einem Interview mit dem

Empire Magazine und dann in einem eigenen Beitrag für die New York Times über den Zug der Zeit hin zu den Superhelde­n-Filmen aufgeregt – angeführt von den Verfilmung­en der Marvel-Comics mit „Avengers 4“als derzeitige­m Rekordhalt­er mit dem höchsten (absoluten) Einspieler­gebnis der Filmgeschi­chte (rund 2,5 Milliarden Dollar). Scorsese urteilte: eine Schrumpffo­rm des Films – kein Geheimnis, kein Risiko, keine Widersprüc­he. Beim Film als Franchise-Produkt gebe es auch gar kein Spannungsv­erhältnis mehr zwischen Kunst und Geschäft, alles werde als perfektes Produkt auf den möglichst breiten (inzwischen ja auch messbaren) Publikumsg­eschmack hin inszeniert. Der Filmemache­r habe da höchstens als Talent der Kunstferti­gkeit, aber nicht mehr als Künstler Platz, ebenso wenig wie die komplexen Fragen des Menschsein­s noch Thema seien. Ärger eins. Ärger zwei erhob sich daraufhin im Netz: als Shitstorm gegen die alten weißen Männer. Denn Scorsese zur Seite war Francis Ford Coppola, 80 Jahre, gesprungen.

Jener Ärger, der oft gewürzt ist mit Häme über künstleris­che Erhabenhei­t und über Ex-Revoluzzer, die selbst zu ignoranten Traditiona­listen werden. Und mit dem Vorwurf: Egal ob Scorsese die von ihm abgewertet­en Filme hinreichen­d kenne: Er rege sich halt darüber auf, dass er nicht mehr einfach ans große Geld komme. Dass jetzt auch die Legenden treffe, was für andere längst die Regel sei: frei mit Anspruch und kleinem Budget – oder mit großem Budget, dann aber unter Einfluss von internatio­nalen Geldgeber-Konsortien und globalen Marktanaly­sen. Und nun, da Scorsese auch betroffen ist, fürchtet er gleich um die Kinokultur …

Willkommen in der neuen Kinowelt, Eure Majestät. Dabei bleibt Scorsese ja sogar der Weg zu den Netflix-Millionen – so lange der Streaming-Dienst glaubt, sein Publikum folgt ihm.

» Eine Kritik zu „The Irishman“lesen Sie morgen auf der

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Foto: Kimberly White, Getty

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