Mittelschwaebische Nachrichten
König Scorsese und das Drama des Kinos
Film Zeichen eines Epochenbruchs auf der Leinwand: Regie-Legende Martin Scorsese warnt vor dem Siegeszug des Superhelden-Kinos – und hat seinen neuen Film mit Netflix verwirklicht
Die Sensation war eine doppelte. Jetzt ist der Ärger ein doppelter. Und im Mittelpunkt dieser doppelt doppelt Aufregung, die sehr viel über das Kino am Bruch zwischen 20. und 21. Jahrhundert erzählt, steht mit Martin Scorsese einer der legendären Regisseure unsere Zeit.
Morgen startet mit „The Irishman“sein neuer Film, der noch einmal die großen alten Tage des New Yorkers heraufbeschwört, der am Sonntag 77. Geburtstag feiert. Es ist eine Mafia-Geschichte, Robert De Niro spielt die Hauptrolle, Harvey Keitel und Joe Pesci sind dabei, Erinnerungen an „Good Fellas“, „Raging Bull“, „Taxi Driver“und „Hexenkessel“. Damals, als Scorsese Teil von „New Hollywood“war, einer Wendung jüngerer Filmemacher gegen die klassischen Epen der Traumfabrik, hin zum Realismus, zur Härte des Alltags, zum Schmutz auf den Straßen.
Sensation eins, dass Scorsese so etwas noch einmal gedreht hat, erstmals auch mit Al Pacino – und mit reichlich technischem Aufwand, der es ihm ermöglicht, De Niro selbst als sein jüngeres Ich auftreten zu lassen. Und Sensation zwei vielleicht schon, dass ihm dafür sein klassisches Studio Paramount nicht die beträchtlichen Mittel bewilligte – jedenfalls aber, dass Martin Scorsese sich für „The Irishman“erstmals mit dem Streaming-Dienst Netflix zusammentat. Dort nämlich bekam er auch das für die höchst aufwendigen Computereffekte nötige Geld. Immerhin, so Scorsese, habe er herausgeschlagen, dass der Film zuerst im Kino läuft, in den USA vier, in Deutschland zwei Wochen – bevor er ins Streamingangebot wandert. Der alte Herrscher passt sich den neuen Möglichkeiten einer anderen Zeit an. Einerseits.
Der doppelte Ärger resultiert andererseits auch aus dem Aufeinandertreffen zwischen seiner und der neuen Zeit: Scorsese hat sich zunächst in einem Interview mit dem
Empire Magazine und dann in einem eigenen Beitrag für die New York Times über den Zug der Zeit hin zu den Superhelden-Filmen aufgeregt – angeführt von den Verfilmungen der Marvel-Comics mit „Avengers 4“als derzeitigem Rekordhalter mit dem höchsten (absoluten) Einspielergebnis der Filmgeschichte (rund 2,5 Milliarden Dollar). Scorsese urteilte: eine Schrumpfform des Films – kein Geheimnis, kein Risiko, keine Widersprüche. Beim Film als Franchise-Produkt gebe es auch gar kein Spannungsverhältnis mehr zwischen Kunst und Geschäft, alles werde als perfektes Produkt auf den möglichst breiten (inzwischen ja auch messbaren) Publikumsgeschmack hin inszeniert. Der Filmemacher habe da höchstens als Talent der Kunstfertigkeit, aber nicht mehr als Künstler Platz, ebenso wenig wie die komplexen Fragen des Menschseins noch Thema seien. Ärger eins. Ärger zwei erhob sich daraufhin im Netz: als Shitstorm gegen die alten weißen Männer. Denn Scorsese zur Seite war Francis Ford Coppola, 80 Jahre, gesprungen.
Jener Ärger, der oft gewürzt ist mit Häme über künstlerische Erhabenheit und über Ex-Revoluzzer, die selbst zu ignoranten Traditionalisten werden. Und mit dem Vorwurf: Egal ob Scorsese die von ihm abgewerteten Filme hinreichend kenne: Er rege sich halt darüber auf, dass er nicht mehr einfach ans große Geld komme. Dass jetzt auch die Legenden treffe, was für andere längst die Regel sei: frei mit Anspruch und kleinem Budget – oder mit großem Budget, dann aber unter Einfluss von internationalen Geldgeber-Konsortien und globalen Marktanalysen. Und nun, da Scorsese auch betroffen ist, fürchtet er gleich um die Kinokultur …
Willkommen in der neuen Kinowelt, Eure Majestät. Dabei bleibt Scorsese ja sogar der Weg zu den Netflix-Millionen – so lange der Streaming-Dienst glaubt, sein Publikum folgt ihm.
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