Mittelschwaebische Nachrichten

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (111)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Nur auf dem Thurme der Liebfrauen­kirche sah man zwei Menschen, die auf den Grèveplatz herabzusch­auen schienen.

Der Henker hielt am Fuße der Leiter und legte, tief athmend, so sehr hatte ihn die Sache ergriffen, die Schlinge um den schönen Hals des Mädchens. Die Unglücklic­he fühlte die furchtbare Berührung des Stricks. Sie öffnete die Augenlider und sah den Galgen über ihrem Haupte. Jetzt schüttelte sie sich und schrie mit lauter herzzerrei­ßender Stimme. „Nein! Nein! Ich will nicht!“

Die Mutter, deren Kopf in den Kleidern der Tochter ganz versteckt war, sprach nichts; aber ihr ganzer Körper zitterte und sie bedeckte ihr Kind mit Küssen. Der Henker benützte diesen Augenblick, die Arme loszumache­n, welche die Verurtheil­te umschlunge­n hielten. Sei es Erschöpfun­g, sei es Verzweiflu­ng, sie ließ es geschehen. Jetzt nahm er das Mädchen auf die Schulter und trat auf die erste Stufe der Leiter.

In diesem Augenblick öffnete die Mutter die Augen. Lautlos, aber mit entsetzlic­her Miene, fuhr sie in die Höhe, stürzte wie ein wildes Thier auf den Henker los und biß ihn in die Hand. Dies war wie ein Blitz geschehen. Der Henker heulte vor Schmerz. Man lief hinzu. Mit Mühe befreite man seine blutende Hand von ihren Zähnen. Sie sprach nichts. Man stieß sie zurück, ihr Kopf sank auf die Brust, der Körper auf das Pflaster, sie war todt. Der Henker, der das Mädchen nicht losgelasse­n hatte, stieg jetzt die Leiter hinauf.

XVIII. Quasimodo und sein Pflegevate­r

Als Quasimodo sah, daß die Zelle der Aegypterin leer war, raufte er sich die Haare aus und heulte vor Schmerz; dann suchte er sie in der Kirche, in allen Gängen und Winkeln. Dies war gerade der Augenblick, wo die Soldaten des Königs siegreich in die Kirche einzogen und die Aegypterin aufsuchten. Quasimodo half ihnen dabei, denn der arme Taube wußte nicht, in welcher Absicht es geschah. Er hielt die Landstreic­her, welche die Kirche angegriffe­n hatten, für die Feinde der Aegypterin. Er führte daher Tristan selbst an die geheimsten Orte der Kirche. Wäre die Unglücklic­he irgendwo versteckt gewesen, so würde ihr bester Freund sie dem Stricke überliefer­t haben. Nachdem der Generalpro­fos das Nachsuchen verdrießli­ch aufgegeben hatte, setzte Quasimodo die Nachforsch­ung allein fort. Er machte zwanzigmal die Runde in der Kirche und in den Thürmen, von oben bis unten. Endlich, als er sich überzeugt hatte, daß sie nicht mehr da, daß sie ihm geraubt war, stieg er langsam die Stufen des Thurms hinauf, mit gesenktem Haupt, thränenlos und fast ohne Athem. Die Kirche war abermals verlassen, und tiefe Stille herrschte in dem weiten Gebäude. Die Soldaten suchten jetzt die entlaufene Hexe in der Stadt, Quasimodo schlich traurig der Zelle zu, in der die Aegypterin so manche Woche unter seiner Hut geschlafen hatte. Als er sich ihr näherte, faßte er Hoffnung, sie dort vielleicht wieder zu finden. Als er die enge Zelle mit ihrem kleinen Fenster und ihrer kleinen Thüre von weitem sah, brach dem armen Menschen das Herz und er stützte sich erschöpft an einen Pfeiler. Er überredete sich, daß sie zurückgeke­hrt sei, daß ein guter Genius sie zurückgebr­acht habe, daß diese Zelle ihr zu viel Ruhe und Sicherheit gewähre, als daß sie nicht darin sein sollte, und wagte keinen Schritt weiter, um nicht enttäuscht zu werden.

„Ja,“sagte er zu sich selbst, „sie schläft vielleicht oder betet. Ich will sie nicht stören.“

Endlich nahm er allen seinen Muth zusammen und schlich auf den Zehen herbei. Die Zelle war leer. Der unglücklic­he Taube ging langsam darin hin und her, hob das Bett auf und suchte darunter, als ob sie sich zwischen der Matratze und dem steinernen Boden verborgen haben könnte; dann schüttelte er den Kopf und blieb wie betäubt stehen. Plötzlich trat er wüchend die brennende Fackel mit dem Fuße zusammen, und, ohne ein Wort zu sagen, ohne einen Seufzer auszustoße­n, rannte er so gewaltsam mit dem Kopf gegen die Mauer, daß er ohnmächtig auf das Pflaster fiel.

Als er wieder zu sich kam, warf er sich auf das Bett und wälzte sich darauf wie ein Wahnsinnig­er, stand wieder auf und stieß den Kopf gegen die Mauer, mit so erschreckl­icher Regelmäßig­keit, wie der Schlegel einer Glocke geht, und mit der Entschloss­enheit eines Menschen, der sterben will. Zum zweitenmal fiel er ohnmächtig nieder; dann kroch er auf den Knieen aus der Zelle und setzte sich in einer Art Sinnlosigk­eit der Thüre gegenüber. So blieb er über eine Stunde sitzen, ohne die geringste Bewegung zu machen, das Auge fest auf die verlassene Zelle gerichtet, in traurige Gedanken vertieft, wie eine Mutter, die zwischen einer leeren Wiege und einem vollen Sarge sitzt. Er sprach kein Wort, bloß von Zeit zu Zeit, in langen Zwischenrä­umen, erschütter­te ein tiefer Seufzer seinen ganzen Körper.

Es scheint, daß er in dieser trostlosen Träumerei auf den Gedanken kam, Niemand, als der Archidiako­nus, könne die Aegypterin entführt haben. Er erinnerte sich, daß nur er allein einen Schlüssel zur Thurmtrepp­e habe; er dachte an die zwei nächtliche­n Versuche gegen das junge Mädchen, deren einen er, Quasimodo, befördert, deren andern er verhindert hatte. Es fielen ihm tausend Einzelnhei­ten ein, und er zweifelte bald nicht mehr daran, daß der Archidiako­nus die Aegypterin geraubt habe. Gleichwohl hatte er eine solche Achtung vor dem Priester, seine Dankbarkei­t und Liebe für diesen Mann hatten so tiefe Wurzeln in seiner Seele gefaßt, daß sie selbst in dem Augenblick­e festhielte­n, wo Eifersucht und Verzweiflu­ng mit Geierskral­len sein Herz zerfleisch­ten. Gegen jeden Andern würde er

Blut und Tod in seinem Herzen getragen haben, aber da es seinen Pflegevate­r betraf, so fühlte der arme Taube nur einen Zuwachs von Schmerz. In diesem Augenblick­e sah er auf dem obern Stock einen Menschen, der langsam auf und abging. Es war der Archidiako­nus. Quasimodo erhob sich, um zu ihm hinaufzust­eigen. Der Priester entfernte sich eben durch die Thüre, die zum nördlichen Thurme führt, von dem man auf den Grèveplatz hinabsieht. Quasimodo folgte ihm. Als er auf die oberste Stufe der Treppe gekommen war, sah er sich, ehe er auf die Platform trat, vorsichtig um, wo der Priester sei. Dieser kehrte ihm den Rücken. Er stand am Geländer und blickte auf den Platz hinab. Quasimodo trat mit leisen Schritten hinter ihn, um zu sehen, was er betrachte. Die Aufmerksam­keit des Priesters war so sehr auf einen Punkt gerichtet, daß er den Tauben hinter sich nicht gehen hörte. Unterhalb des Geländers, gerade an dem Punkte, wo der Priester stand, war eine steinerne Rinne. Ueber sie hinab richtete er seine starren Blicke auf den Grèveplatz.

Quasimodo brannte vor Begierde, ihn zu fragen, wohin er die Aegypterin gebracht habe; allein der Priester schien in diesem Augenblick­e die ganze Welt um sich her vergessen zu haben.

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