Mittelschwaebische Nachrichten
Der Meinung heißt nicht von Widerspruch
Leitartikel In diesem Land müsse man aufpassen, was man sagt, heißt es. Dabei gab es noch nie eine Zeit, in der Gesagtes keine Konsequenzen hatte. Und die braucht es auch
Die Meinungsfreiheit in Deutschland ist in Gefahr! Zumindest, wenn man einer aktuellen Studie glauben möchte. Laut dem Allensbach-Institut glauben 63 Prozent der Deutschen, dass man in der Öffentlichkeit aufpassen müsse, was man sagt. Vor kurzem debattierte gar der Bundestag über die angeblich gefährdete Meinungsfreiheit. Sie ist seit vielen Jahren Gegenstand gesellschaftlicher Debatten.
Schnell sprechen manche von „Meinungskorridoren“, von „Gesinnungsdiktatur“und von „Mainstream-Medien“. Sie alle berichteten nur noch aus der gleichen Perspektive, böten anderen Meinungen keinen Raum mehr – so lauten oftmals die Vorwürfe. Dabei vergessen die Empörten: Sie können sich jederzeit zu Wort melden. In digitalen und analogen Medien, in
Leserbriefen oder als Politiker im Bundestag.
Wir leben in einer demokratischen, sehr freiheitlichen Gesellschaft. Der deutsche Staat bietet einen Rahmen, doch der ist weit gefasst. So dürfen Menschen im Internet Politikerinnen selbst härteste Beleidigungen entgegenschleudern, ohne Konsequenzen zu erfahren. Auch wird niemand ins Gefängnis gesperrt, nur weil er sich bei Pegida oder anderen menschenfeindlichen Vereinigungen engagiert. Wenn Hans-Georg Maaßen von Staatsversagen schwadroniert, füllt er Hallen. Wer spricht und schreibt wie ein Faschist, etwa Björn Höcke, darf auch so genannt werden. Er selbst schreibt in seinem Buch von „wohltemperierten Grausamkeiten“, was nichts anderes ist als der Aufruf zu staatlicher Gewalt, und doch durfte er sich bei der Landtagswahl in Thüringen von seinen Wählern feiern lassen. In den Medien muss Höcke weiterhin Gegenwind aushalten und das will er nicht – auch weil seine Argumente schwach sind. Diese Akteure müssen also mit Gegenrede und anderen Konsequenzen rechnen. Denn nie und nirgendwo hat es Zeiten gegeben, in denen totale Meinungsfreiheit herrschte. Schon immer legten soziale Normen die Grenzen des Sagbaren fest.
Meinungsfreiheit heißt nicht Widerspruchsfreiheit. Es ist das Recht auf Streit. Und die Möglichkeit dazu ist heute, dank sozialer Medien, enorm. Wo es mehr Meinungen
gibt, gibt es aber eben auch mehr Gegenmeinungen. Ein Verstoß gegen gesellschaftliche Sitten erreicht heute schlicht viel mehr Menschen als die eigene Filterblase vergangener Zeiten.
Das erlebt nicht nur Höcke, sondern auch die AfD insgesamt: Sie leidet nicht unter der Einschränkung der Meinungsfreiheit, sie ist nur nicht in der Lage, mit den Folgen ihrer Aussagen umgehen zu können. Und wenn sich jemand wie der AfD-Politiker Stephan Brandner außerhalb sozialer Normen bewegt und daraufhin seinen Posten verliert, ist das keine Diktatur. Es ist das Recht einer freiheitlichen Demokratie, sich gegen diejenigen zu wehren, die einen völlig anderen Maßstab an das Leben in der Gesellschaft legen.
Die öffentliche Meinung ist keine feste Größe, sie variiert mit Ort und Zeit. Das Meinungsklima wird ständig neu ausgehandelt. Weil Gegner der Freiheit dies genau wissen, nutzen sie diese, um den Diskurs zu verschieben. Dagegen kann und darf sich die Gesellschaft wehren. Als erstes Mittel muss dabei der Streit gelten. Im Austausch der Argumente vergewissert sich die Gesellschaft ihrer Standpunkte. Doch bei den Feinden der offenen Gesellschaft bewirkt das nichts. Eine starke Demokratie muss hier auf Mittel jenseits des Widerspruchs setzen. So lassen sich Parteigelder kürzen und antifreiheitliche Schriften, Organisationen oder Parteien verbieten. Das alles darf kein Tabu sein, will man die Meinungsfreiheit bewahren.
Soziale Normen legen die Grenzen des Sagbaren fest