Mittelschwaebische Nachrichten
Hängt vom Elternhaus ab
Theoretisch kann jeder werden, was er will. Doch wer arm auf die Welt kommt, bleibt es meistens auch. Warum in Deutschland das Problem sogar größer ist als anderswo
Berlin Der Bundespräsident ist ein Ausnahmebeispiel. Frank-Walter Steinmeier kam als Sohn einer Vertriebenen aus Breslau zur Welt. Er selbst schrieb einmal, seine Mutter habe „nichts als einen Handwagen“dabeigehabt, als sie in NordrheinWestfalen ankam, sein Vater war Tischler. Steinmeier hat es geschafft. Vom Arbeiterkind aus eher einfachen Verhältnissen hat er sich nach oben gearbeitet, bis an die Spitze des Staates. Sein Lebenslauf? Hauptschule, Oberschule, später Jura-Studium, obwohl ihn das Fach nach eigener Aussage damals nicht so recht interessiert hat. Heute repräsentiert er als Bundespräsident Deutschland.
Doch Lebensläufe wie dieser sind in Deutschland selten. Zwar gibt es viele bekannte Beispiele für sozialen Aufstieg, wie etwa Rüdiger Grube, der sich vom Bauernkind an die Spitze des Bahnkonzerns gearbeitet hat; oder Pinar Atalay, die Journalistin, die als Kind von Einwanderern aufwuchs und später die erste Tagesthemen-Moderatorin mit türkischen Wurzeln wurde. Trotzdem bleibt sozialer Aufstieg, also das, was die Amerikaner „From Rags to Riches“(„Vom Tellerwäscher zum Millionär“) nennen, in Deutschland meist nur ein Traum. Das belegen zahlreiche Studien der vergangenen Jahrzehnte. Sie alle zeigen: Der soziale Status einer Person, ihr Einkommen, ihr Vermögen, ihre Stellung in der Gesellschaft hängt maßgeblich von dem ihrer Eltern und Großeltern ab.
Die wohl aufsehenerregendste Studie der vergangenen Jahre erschien 2018, veröffentlicht von der OECD. Ihr Ergebnis: „In Deutschland könnte es sechs Generationen dauern, bis die Nachkommen einer einkommensschwachen Familie das Durchschnittseinkommen erreichen“, heißt es im Bericht. Das entspricht ungefähr 150 Jahren. Damit liege Deutschland über dem OECDweiten Durchschnitt von viereinhalb Generationen. Andere Studien wiederum besagen, dass dieser Prozess rund vier Generationen dauert.
Eine Langzeituntersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) befasste sich mit den Jahrgängen 1939 bis 1971 in Westdeutschland. Demnach ist es sehr wahrscheinlich, selbst als leitender Angestellter zu arbeiten, wenn die eigenen Eltern einen solchen Berufsstatus hatten. Die Wahrscheinlichkeit auf diese Position ist in etwa fünfeinhalbmal höher als ein Aufstieg als Kind von einfachen Angestellten oder Facharbeitern. Gleichzeitig ist die Wahrscheinlichkeit gestiegen, dass sich der Berufsstatus des ungelernten Arbeiters von der Eltern- auf die Kindgeneration überträgt. Das Kind eines Arztes hat also deutlich bessere Chancen, einmal Medizin zu studieren, als das eines Arbeiters.
Welche Auswirkungen hat das auf die Freiheit? Sandra Bohmann, die an der DIW-Studie beteiligt war, sieht einen Zusammenhang: „Der Grad der Freiheit kann in verschiedenen sozialen Lagen durchaus variieren.“Ein Kind, das etwa in eine weniger privilegierte Familie geboren wird, genießt demnach mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit nicht dieselben Freiheiten, wie ein Kind aus einer Familie mit überdurchschnittlichem Einkommen, hohem Bildungsabschluss und einem guten Netzwerk an Kontakten.
Die Forscherin fasst die Lage in Deutschland so zusammen: Etwa dreißig Prozent erreichen eine höhere Position als ihre Eltern, ein Fünftel etwa erlebt einen sozialen Abstieg. Die übrigen 50 Prozent bleiben in der Schicht, in der sie aufgewachsen sind. Damit sei Deutschland eher eine geschlossene – also weniger mobile – Gesellschaft, sagt DIW-Forscherin Bohmann.
Im internationalen Vergleich schneidet Deutschland bei dieser sogenannten sozialen Mobilität je nach Studie schlecht oder mäßig ab. In den skandinavischen Ländern etwa gilt die Situation als deutlich besser.
Dort spiele der sozioökonomische Hintergrund der Familie eine deutlich geringere Rolle als in Deutschland, erklärt Paul Hufe vom Ifo-Institut in München. Doch was sind die Gründe dafür?
Hufe zufolge spielen neben einem möglichen Migrationshintergrund besonders das Bildungssystem und der vielfach kritisierte Bildungsföderalismus in Deutschland eine entscheidende Rolle: „Unser Schulsystem teilt Kinder schon nach der vierten Klasse auf verschiedene weiterführende Schulen auf. Damit wird auch ihr restlicher Lebensweg ein Stück weit vorbestimmt.“Zwar gibt es die Möglichkeit, auch nach einem Mittelschulabschluss noch das Abitur nachzuholen. „Dieser Weg ist für die Meisten aber sehr schwierig.“In anderen Ländern, in denen Kinder erst später auf weiterführende Schulen verteilt werden, sei die Durchlässigkeit insgesamt höher.
Somit ist nach Einschätzung der Experten in Deutschland auch die Freiheit nach wie vor vom Elternhaus abhängig. Ifo-Forscher Hufe nennt es eine „Geburtslotterie“und erklärt: „Wenn Faktoren, auf die wir keinen Einfluss haben, in starkem Maße determinieren, was wir in unserem Leben erreichen können, limitiert das natürlich die Freiheit des Individuums.“Frei in diesem Sinne ist, wer in die richtigen Verhältnisse geboren wurde.
Wirtschaftsforscher sprechen von einer „Geburtslotterie“