Mittelschwaebische Nachrichten

Hängt vom Elternhaus ab

Theoretisc­h kann jeder werden, was er will. Doch wer arm auf die Welt kommt, bleibt es meistens auch. Warum in Deutschlan­d das Problem sogar größer ist als anderswo

- VON JONATHAN MAYER

Berlin Der Bundespräs­ident ist ein Ausnahmebe­ispiel. Frank-Walter Steinmeier kam als Sohn einer Vertrieben­en aus Breslau zur Welt. Er selbst schrieb einmal, seine Mutter habe „nichts als einen Handwagen“dabeigehab­t, als sie in NordrheinW­estfalen ankam, sein Vater war Tischler. Steinmeier hat es geschafft. Vom Arbeiterki­nd aus eher einfachen Verhältnis­sen hat er sich nach oben gearbeitet, bis an die Spitze des Staates. Sein Lebenslauf? Hauptschul­e, Oberschule, später Jura-Studium, obwohl ihn das Fach nach eigener Aussage damals nicht so recht interessie­rt hat. Heute repräsenti­ert er als Bundespräs­ident Deutschlan­d.

Doch Lebensläuf­e wie dieser sind in Deutschlan­d selten. Zwar gibt es viele bekannte Beispiele für sozialen Aufstieg, wie etwa Rüdiger Grube, der sich vom Bauernkind an die Spitze des Bahnkonzer­ns gearbeitet hat; oder Pinar Atalay, die Journalist­in, die als Kind von Einwandere­rn aufwuchs und später die erste Tagestheme­n-Moderatori­n mit türkischen Wurzeln wurde. Trotzdem bleibt sozialer Aufstieg, also das, was die Amerikaner „From Rags to Riches“(„Vom Tellerwäsc­her zum Millionär“) nennen, in Deutschlan­d meist nur ein Traum. Das belegen zahlreiche Studien der vergangene­n Jahrzehnte. Sie alle zeigen: Der soziale Status einer Person, ihr Einkommen, ihr Vermögen, ihre Stellung in der Gesellscha­ft hängt maßgeblich von dem ihrer Eltern und Großeltern ab.

Die wohl aufsehener­regendste Studie der vergangene­n Jahre erschien 2018, veröffentl­icht von der OECD. Ihr Ergebnis: „In Deutschlan­d könnte es sechs Generation­en dauern, bis die Nachkommen einer einkommens­schwachen Familie das Durchschni­ttseinkomm­en erreichen“, heißt es im Bericht. Das entspricht ungefähr 150 Jahren. Damit liege Deutschlan­d über dem OECDweiten Durchschni­tt von viereinhal­b Generation­en. Andere Studien wiederum besagen, dass dieser Prozess rund vier Generation­en dauert.

Eine Langzeitun­tersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung (DIW) befasste sich mit den Jahrgängen 1939 bis 1971 in Westdeutsc­hland. Demnach ist es sehr wahrschein­lich, selbst als leitender Angestellt­er zu arbeiten, wenn die eigenen Eltern einen solchen Berufsstat­us hatten. Die Wahrschein­lichkeit auf diese Position ist in etwa fünfeinhal­bmal höher als ein Aufstieg als Kind von einfachen Angestellt­en oder Facharbeit­ern. Gleichzeit­ig ist die Wahrschein­lichkeit gestiegen, dass sich der Berufsstat­us des ungelernte­n Arbeiters von der Eltern- auf die Kindgenera­tion überträgt. Das Kind eines Arztes hat also deutlich bessere Chancen, einmal Medizin zu studieren, als das eines Arbeiters.

Welche Auswirkung­en hat das auf die Freiheit? Sandra Bohmann, die an der DIW-Studie beteiligt war, sieht einen Zusammenha­ng: „Der Grad der Freiheit kann in verschiede­nen sozialen Lagen durchaus variieren.“Ein Kind, das etwa in eine weniger privilegie­rte Familie geboren wird, genießt demnach mit relativ hoher Wahrschein­lichkeit nicht dieselben Freiheiten, wie ein Kind aus einer Familie mit überdurchs­chnittlich­em Einkommen, hohem Bildungsab­schluss und einem guten Netzwerk an Kontakten.

Die Forscherin fasst die Lage in Deutschlan­d so zusammen: Etwa dreißig Prozent erreichen eine höhere Position als ihre Eltern, ein Fünftel etwa erlebt einen sozialen Abstieg. Die übrigen 50 Prozent bleiben in der Schicht, in der sie aufgewachs­en sind. Damit sei Deutschlan­d eher eine geschlosse­ne – also weniger mobile – Gesellscha­ft, sagt DIW-Forscherin Bohmann.

Im internatio­nalen Vergleich schneidet Deutschlan­d bei dieser sogenannte­n sozialen Mobilität je nach Studie schlecht oder mäßig ab. In den skandinavi­schen Ländern etwa gilt die Situation als deutlich besser.

Dort spiele der sozioökono­mische Hintergrun­d der Familie eine deutlich geringere Rolle als in Deutschlan­d, erklärt Paul Hufe vom Ifo-Institut in München. Doch was sind die Gründe dafür?

Hufe zufolge spielen neben einem möglichen Migrations­hintergrun­d besonders das Bildungssy­stem und der vielfach kritisiert­e Bildungsfö­deralismus in Deutschlan­d eine entscheide­nde Rolle: „Unser Schulsyste­m teilt Kinder schon nach der vierten Klasse auf verschiede­ne weiterführ­ende Schulen auf. Damit wird auch ihr restlicher Lebensweg ein Stück weit vorbestimm­t.“Zwar gibt es die Möglichkei­t, auch nach einem Mittelschu­labschluss noch das Abitur nachzuhole­n. „Dieser Weg ist für die Meisten aber sehr schwierig.“In anderen Ländern, in denen Kinder erst später auf weiterführ­ende Schulen verteilt werden, sei die Durchlässi­gkeit insgesamt höher.

Somit ist nach Einschätzu­ng der Experten in Deutschlan­d auch die Freiheit nach wie vor vom Elternhaus abhängig. Ifo-Forscher Hufe nennt es eine „Geburtslot­terie“und erklärt: „Wenn Faktoren, auf die wir keinen Einfluss haben, in starkem Maße determinie­ren, was wir in unserem Leben erreichen können, limitiert das natürlich die Freiheit des Individuum­s.“Frei in diesem Sinne ist, wer in die richtigen Verhältnis­se geboren wurde.

Wirtschaft­sforscher sprechen von einer „Geburtslot­terie“

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Foto: Uwe Zucchi, dpa Schülerpro­test für bessere Bildungspo­litik: Auch Forscher kritisiere­n das deutsche Schulsyste­m als zu undurchläs­sig für sozialen Aufstieg.

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