Mittelschwaebische Nachrichten
Ist im Beruf möglich?
Verglichen mit den Freiheiten, die Menschen im Privatleben gewonnen haben, hat sich in Unternehmen wenig getan. Warum ein Mittelständler am Bodensee es anders macht
Engen Muss ein Mensch die Selbstbestimmung ablegen, sobald er sich an seinen Schreibtisch setzt, an die Werkbank oder das Fließband stellt? Wenige Kilometer westlich des Bodensees, ganz nahe der Schweizer Grenze, in der Kleinstadt Engen, steht eine Fabrik, in der man schon lange auf Eigenverantwortung statt Befehlskette setzt: die Firma Allsafe. Dabei stehen die Produkte, die der Mittelständler herstellt, so gar nicht für Aufbruch: „Festhalten“, beschreibt Jens Laufer, einer der beiden Geschäftsführer, kurz und knapp das alles verbindende Merkmal. Allsafe stellt Metallschienen, Netze und Gurte her, die Ladegüter auf Lastwagen sichern, sowie Sitzbefestigungen für Autos und Flugzeuge.
In der Branche genießt die Firma einen guten Ruf, bundesweit bekannt aber wurde sie, weil Mitarbeiter dort außergewöhnlich frei arbeiten und Hierarchien kaum eine Rolle spielen. Es beginnt auf dem Parkplatz: Kommt Laufer später ins Büro, muss er hinter der Fabrik parken, denn Chefparkplätze gibt es hier nicht. Läuft man am Empfang vorbei, liegen rechts Büros und Besprechungsräume hinter Glasfenstern. Meetings bleiben nicht geheim. Arbeitsstunden werden nicht erfasst, bei Managern und Arbeitern gleichermaßen. Bis vor kurzem gab es nicht einmal eine Stechuhr. Mittlerweile zwar schon, aber nur um zu wissen, ob jemand da ist – nicht wie lange, betont Laufer. Und nutzen muss sie jeder, auch er selbst.
Eingeführt hat das Detlef Lohmann, der geschäftsführende Gesellschafter. Der 61-Jährige ist gelernter Kfz-Mechaniker und Ingenieur. Er arbeitete erst für Konzerne, doch mit deren Strukturen konnte er nichts anfangen. 1999 kündigte er seinen Job, kaufte Anteile an Allsafe und gestaltete das Unternehmen um. Umsatz und Mitarbeiterzahl der Firma haben sich seitdem auf 65 Millionen Euro und 260 Köpfe mehr als versechsfacht, der Gewinn verzwanzigfacht. Vor etwa einem Jahr holte er Laufer in die Geschäftsführung.
Der Maschinenbauingenieur arbeitete auch schon in Konzernen. Vor drei Jahren kam er als Produktmanager zu Allsafe. Dass die Arbeit dort etwas anders würde, dämmerte ihm schon im Bewerbungsgespräch: Nicht Chef und Personalabteilung sitzen einem dort gegenüber, sondern bis zu zehn Mitarbeiter aus der Belegschaft. Sie begutachten den Neuling und entscheiden: Passt er oder sie ins Team? Anschließend müssen Bewerber probearbeiten: Sie erhalten eine schwierige Aufgabe, sollen unter Druck geraten. Um das Endergebnis geht es aber weniger – eher darum, wie gut sich Anwärter mit den künftigen Kollegen austauschen. Fällt das Urteil der Mitarbeiter positiv aus, erhält der Bewerber direkt einen Vertrag. Weil auch das Gehalt in der großen Runde ein Thema ist, wissen viele grob darüber Bescheid, wie viel ihre Kollegen verdienen.
Allerdings unterscheidet sich die Arbeitsweise durchaus nach Bereichen: Verkäufer arbeiten sehr selbstständig, die Produktmanager in einem Team ohne Hierarchie, die Produktion ist etwas straffer organisiert, wie Laufer einräumt. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass dort auch ein geringeres Bedürfnis besteht, sich die Arbeit selbst einzuteilen. Viele Menschen wollen zur Arbeit kommen, ihre Aufgabe erledigen und ihr Geld verdienen.“Gemein haben alle Mitarbeiter, dass sie schwierige Fragen nicht an den Vorgesetzten übergeben können. „Jeder kann hier jeden um Rat fragen, aber Entscheidungen treffen müssen die Mitarbeiter selbst.“
Allsafe ist damit erfolgreich, erst im Sommer hat die Firma eine neue Fabrik in Brandenburg eröffnet: Sind solche Modelle also das Unternehmenskonzept der Zukunft? Stefan Kühl, Professor für Organisationssoziologie an der Universität
Bielefeld, ist skeptisch. Er hat „demokratische Unternehmen“in einem Fachartikel als „Mythos“bezeichnet. Alle zehn bis 15 Jahre werde die „immer gleiche Debatte“darüber neu entfacht – nur mit anderen Bezeichnungen. Schon die jahrhundertealte Idee der Genossenschaften sei davon geprägt. In den 1970er Jahren seien selbstverwaltete Betriebe während der Studentenrevolten entstanden. Heutige demokratisch geprägte Unternehmen hätten damit zwar nichts zu tun – das Vokabular mancher Reden von Vorstandsvorsitzenden klinge aber ähnlich. Er gibt außerdem zu bedenken:
„Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Das hier ist kein Ponyhof.“
Das Fehlen von Hierarchien bedeute nicht, dass es keine Machtkämpfe mehr gibt. Zwar helfe Vertrauen und Verständigung – der Faktor Macht sei in demokratischen Systemen aber größer, weil sie ständig hinterfragt würde.
Zurück nach Engen: Laufer betritt die Produktionshalle der Firma. Wenige Meter von der Fräsmaschine entfernt hängen Bilder an der Wand, die Mitarbeiter in einem Projekt gemalt haben. Wenn der Geschäftsführer spricht, klingt das ganz und gar nicht nach Studentenrevolten: „Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Das hier ist kein Ponyhof.“Was die Mitarbeiter an Freiheiten gewinnen, müssen sie mit Eigenverantwortung und Motivation aufwiegen. Besteht nicht sogar die Gefahr, dass Mitarbeiter sich überlasten? Laufer entgegnet, die Vertrauensarbeitszeit bringe generell mit sich, dass Mitarbeiter selbst dafür verantwortlich sind, dass sie nicht zu viel arbeiten – auch wenn man natürlich gemeinsam Lösungen suche, wenn es hakt. Bei Bewerbungen muss die Firma stärker aussieben. Und wenn ein Mitarbeiter die Freiheit missbraucht, muss er gehen. „Klar ist auch: Ziel des Unternehmens ist es, Geld zu verdienen.“
Laufer kann sich vorstellen, dass mehr Unternehmen sich so strukturieren, gerade jetzt, wo die Automobilindustrie vor Problemen steht. Muss ein Unternehmen sich so viel Freiheit für Mitarbeiter leisten können? Der Geschäftsführer schüttelt den Kopf. „Viele Unternehmen in der Branche stehen aktuell so unter Druck, dass ein Chef sich nicht um jedes Problem kümmern kann. Er muss Verantwortung abgeben.“Elementar sei aber: Man muss seinen Mitarbeitern vertrauen können.