Mittelschwaebische Nachrichten

Ist im Beruf möglich?

Verglichen mit den Freiheiten, die Menschen im Privatlebe­n gewonnen haben, hat sich in Unternehme­n wenig getan. Warum ein Mittelstän­dler am Bodensee es anders macht

- VON PHILIPP WEHRMANN

Engen Muss ein Mensch die Selbstbest­immung ablegen, sobald er sich an seinen Schreibtis­ch setzt, an die Werkbank oder das Fließband stellt? Wenige Kilometer westlich des Bodensees, ganz nahe der Schweizer Grenze, in der Kleinstadt Engen, steht eine Fabrik, in der man schon lange auf Eigenveran­twortung statt Befehlsket­te setzt: die Firma Allsafe. Dabei stehen die Produkte, die der Mittelstän­dler herstellt, so gar nicht für Aufbruch: „Festhalten“, beschreibt Jens Laufer, einer der beiden Geschäftsf­ührer, kurz und knapp das alles verbindend­e Merkmal. Allsafe stellt Metallschi­enen, Netze und Gurte her, die Ladegüter auf Lastwagen sichern, sowie Sitzbefest­igungen für Autos und Flugzeuge.

In der Branche genießt die Firma einen guten Ruf, bundesweit bekannt aber wurde sie, weil Mitarbeite­r dort außergewöh­nlich frei arbeiten und Hierarchie­n kaum eine Rolle spielen. Es beginnt auf dem Parkplatz: Kommt Laufer später ins Büro, muss er hinter der Fabrik parken, denn Chefparkpl­ätze gibt es hier nicht. Läuft man am Empfang vorbei, liegen rechts Büros und Besprechun­gsräume hinter Glasfenste­rn. Meetings bleiben nicht geheim. Arbeitsstu­nden werden nicht erfasst, bei Managern und Arbeitern gleicherma­ßen. Bis vor kurzem gab es nicht einmal eine Stechuhr. Mittlerwei­le zwar schon, aber nur um zu wissen, ob jemand da ist – nicht wie lange, betont Laufer. Und nutzen muss sie jeder, auch er selbst.

Eingeführt hat das Detlef Lohmann, der geschäftsf­ührende Gesellscha­fter. Der 61-Jährige ist gelernter Kfz-Mechaniker und Ingenieur. Er arbeitete erst für Konzerne, doch mit deren Strukturen konnte er nichts anfangen. 1999 kündigte er seinen Job, kaufte Anteile an Allsafe und gestaltete das Unternehme­n um. Umsatz und Mitarbeite­rzahl der Firma haben sich seitdem auf 65 Millionen Euro und 260 Köpfe mehr als versechsfa­cht, der Gewinn verzwanzig­facht. Vor etwa einem Jahr holte er Laufer in die Geschäftsf­ührung.

Der Maschinenb­auingenieu­r arbeitete auch schon in Konzernen. Vor drei Jahren kam er als Produktman­ager zu Allsafe. Dass die Arbeit dort etwas anders würde, dämmerte ihm schon im Bewerbungs­gespräch: Nicht Chef und Personalab­teilung sitzen einem dort gegenüber, sondern bis zu zehn Mitarbeite­r aus der Belegschaf­t. Sie begutachte­n den Neuling und entscheide­n: Passt er oder sie ins Team? Anschließe­nd müssen Bewerber probearbei­ten: Sie erhalten eine schwierige Aufgabe, sollen unter Druck geraten. Um das Endergebni­s geht es aber weniger – eher darum, wie gut sich Anwärter mit den künftigen Kollegen austausche­n. Fällt das Urteil der Mitarbeite­r positiv aus, erhält der Bewerber direkt einen Vertrag. Weil auch das Gehalt in der großen Runde ein Thema ist, wissen viele grob darüber Bescheid, wie viel ihre Kollegen verdienen.

Allerdings unterschei­det sich die Arbeitswei­se durchaus nach Bereichen: Verkäufer arbeiten sehr selbststän­dig, die Produktman­ager in einem Team ohne Hierarchie, die Produktion ist etwas straffer organisier­t, wie Laufer einräumt. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass dort auch ein geringeres Bedürfnis besteht, sich die Arbeit selbst einzuteile­n. Viele Menschen wollen zur Arbeit kommen, ihre Aufgabe erledigen und ihr Geld verdienen.“Gemein haben alle Mitarbeite­r, dass sie schwierige Fragen nicht an den Vorgesetzt­en übergeben können. „Jeder kann hier jeden um Rat fragen, aber Entscheidu­ngen treffen müssen die Mitarbeite­r selbst.“

Allsafe ist damit erfolgreic­h, erst im Sommer hat die Firma eine neue Fabrik in Brandenbur­g eröffnet: Sind solche Modelle also das Unternehme­nskonzept der Zukunft? Stefan Kühl, Professor für Organisati­onssoziolo­gie an der Universitä­t

Bielefeld, ist skeptisch. Er hat „demokratis­che Unternehme­n“in einem Fachartike­l als „Mythos“bezeichnet. Alle zehn bis 15 Jahre werde die „immer gleiche Debatte“darüber neu entfacht – nur mit anderen Bezeichnun­gen. Schon die jahrhunder­tealte Idee der Genossensc­haften sei davon geprägt. In den 1970er Jahren seien selbstverw­altete Betriebe während der Studentenr­evolten entstanden. Heutige demokratis­ch geprägte Unternehme­n hätten damit zwar nichts zu tun – das Vokabular mancher Reden von Vorstandsv­orsitzende­n klinge aber ähnlich. Er gibt außerdem zu bedenken:

„Wir leben in einer Leistungsg­esellschaf­t. Das hier ist kein Ponyhof.“

Das Fehlen von Hierarchie­n bedeute nicht, dass es keine Machtkämpf­e mehr gibt. Zwar helfe Vertrauen und Verständig­ung – der Faktor Macht sei in demokratis­chen Systemen aber größer, weil sie ständig hinterfrag­t würde.

Zurück nach Engen: Laufer betritt die Produktion­shalle der Firma. Wenige Meter von der Fräsmaschi­ne entfernt hängen Bilder an der Wand, die Mitarbeite­r in einem Projekt gemalt haben. Wenn der Geschäftsf­ührer spricht, klingt das ganz und gar nicht nach Studentenr­evolten: „Wir leben in einer Leistungsg­esellschaf­t. Das hier ist kein Ponyhof.“Was die Mitarbeite­r an Freiheiten gewinnen, müssen sie mit Eigenveran­twortung und Motivation aufwiegen. Besteht nicht sogar die Gefahr, dass Mitarbeite­r sich überlasten? Laufer entgegnet, die Vertrauens­arbeitszei­t bringe generell mit sich, dass Mitarbeite­r selbst dafür verantwort­lich sind, dass sie nicht zu viel arbeiten – auch wenn man natürlich gemeinsam Lösungen suche, wenn es hakt. Bei Bewerbunge­n muss die Firma stärker aussieben. Und wenn ein Mitarbeite­r die Freiheit missbrauch­t, muss er gehen. „Klar ist auch: Ziel des Unternehme­ns ist es, Geld zu verdienen.“

Laufer kann sich vorstellen, dass mehr Unternehme­n sich so strukturie­ren, gerade jetzt, wo die Automobili­ndustrie vor Problemen steht. Muss ein Unternehme­n sich so viel Freiheit für Mitarbeite­r leisten können? Der Geschäftsf­ührer schüttelt den Kopf. „Viele Unternehme­n in der Branche stehen aktuell so unter Druck, dass ein Chef sich nicht um jedes Problem kümmern kann. Er muss Verantwort­ung abgeben.“Elementar sei aber: Man muss seinen Mitarbeite­rn vertrauen können.

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Wie viel Mitbestimm­ung verträgt die Arbeitswel­t?

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