Mittelschwaebische Nachrichten
Der defekte Weltfrieden
Der Volksbund führt in Schulen und an anderen Lernorten einen intensiven Dialog mit der Jugend über nachhaltiges Erinnern und Gedenken. Ein kleines Jubiläum auf Korsika
Bastia/Augsburg Wohin mit den vielen Toten? Diese Frage stellten sich schon nach zwei Monaten des Ersten Weltkriegs Heerscharen trauernder Angehöriger im ganzen Deutschen Reich. Am 1. Oktober 1914 erhielten sie kurz und bündig Antwort – verbrämt mit einer unglaublichen regierungsamtlichen Lüge.
An jenem Tag vor 105 Jahren wurde „amtlich“in der MünchenAugsburger Abendzeitung verlautbart: „In letzter Zeit wurden zahlreiche Gesuche um Rückführung Gefallener gestellt. Das Aufsuchen, Ausgraben und Überführen Gefallener aus dem Bereich der vordersten Linie ist überhaupt unausführbar; aber auch sonst wird die Rückführung auf so große Schwierigkeiten stoßen, wie z. B. Mangel an Transportmitteln, daß nur dringend davon abgeraten werden kann.“Und dann folgte der ultimative patriotische Schwindel: „Für die Soldaten ist das Schlachtfeld das schönste, ehrenvollste Grab.“
Patriotismus hin, Trauerarbeit her: Leidtragenden in der Heimat dürfte in ihrer tiefen Betrübnis zumindest dieser letzte Satz der von „Wolffs Telegraphen-Bureau“verbreiteten kurzen Notiz alles andere als Trost gewesen sein.
Richtig ist freilich auch, dass massenhaft ganze Regimenter wegstarben und den für die Bestattung abgestellten sogenannten „Gräberoffizieren“hinter der Front häufig nur eine provisorische Beerdigung („Erstbestattung“) möglich war. In den Stahlgewittern jener Jahre konnte dem Toten nicht immer ein Name zugeordnet werden – oft erlaubten die Umstände auch nur ein Massengrab („Kameradengrab“).
Nach insgesamt 9737000 Toten von 1914 bis 1918 und dem Waffenstillstand verabredeten Freund und Feind im Versailler Vertrag den Artikel 225 – der einzig wirklich befriedende des gesamten Abkommens. Er lautet: „Die alliierten und assoziierten Mächte und die deutsche Regierung werden die Gräber der in den betreffenden Ländern begrabenen Heeres- und Marineangehörigen achten und unterhalten.“
Bau, Pflege und Erhalt der letzten Ruhestätten wurden also zur Sache von nationalem Rang. Ihrer nahm sich fortan eine neue, vor 100 Jahren gegründete Organisation an: der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Er wurde am 16. Dezember 1919 ins Leben gerufen. Prominenteste Mitglieder dieser ersten deutschen Bürgerinitiative waren Reichspräsident Ebert und der spätere Bundeskanzler Adenauer. Mittlerweile kümmert sich die Organisation
zusammen mit dem Staat um 2,8 Millionen Opfer auf 832 Friedhöfen in 46 Ländern. Wahrlich kein humanitärer Kleinkram.
Wie beispielhaft-unpathetisch ohne jeglichen Totenkult diese Aufgabe nach dem Zweiten Weltkrieg auch abseits der großen Schlachtfelder und Nekropolen in West- und Osteuropa angegangen wurde, ließ sich jetzt bei einer Pressefahrt des Landesverbandes Bayern des Volksbundes auf Korsika besichtigen. In Bastia im Norden der Insel wurde genau vor 50 Jahren – 1969 – eine eindrucksvolle Gedenkstätte nahe dem Mittelmeer eingerichtet. Korkstillen eichen und Eukalyptusbäume vermitteln geballte südländische Anmutung. 28 Tote des Ersten Weltkriegs – es handelt sich dabei um in Kriegsgefangenschaft Verstorbene – und 811 Opfer des Zweiten Weltkriegs ruhen hier.
Dabei war die Insel im Mittelmeer 1943 nur „Nebenkriegsschauplatz“– sie lag an der Peripherie globalen Schreckens. Zwar hatten die Franzosen ihr Befestigungssystem der „Maginot-Linie“bis hierher in den tiefsten Süden durchgezogen. Dramatische Gefechte gab es aber auf der „Insel der Schönheit“nur beim Rückzug deutscher Truppen aufs Festland. Korsika war im Übrigen das erste befreite französische Departement im Weltkrieg. Truppen des Generals de Gaulle und einheimische Widerstandskämpfer eroberten es zurück.
In Bastia besiegelten jetzt 50 Jahre nach dem Bau des Friedhofes Volksbund und französischer Kriegsopferverband, Militärs beider Seiten und der Bürgermeister der Stadt in einer kleinen Feier die Versöhnung über den Gräbern. Kränze wurden niedergelegt, und Militärdekan Dr. Dr. Gmelch (München) sprach unterm marmornen Hochkreuz ein längeres „Gebet für die Vereinten Nationen“.
Mitten hinein ins Vorbereiten der Zeremonie platzte unerwarteter Besuch: Gabriele und Jürgen Klieme aus Feucht bei Nürnberg, die gerade Urlaub auf Korsika machten. Auf der etwas ratlosen Suche nach dem Grab des Opas der Ehefrau konfrontierten sie Vertreter des Volksbundes an Ort und Stelle mit ihrer Bitte, etwas über das Schicksal des Großvaters zu erfahren. Die Familie aus Franken hatte nur einen maschinengeschriebenen Brief des damaligen
Kompaniechefs mit vagen Angaben zur Bestattung dabei. Der Landesgeschäftsführer des Volksbundes versprach, in den einschlägigen Verlustlisten und sonstigen Unterlagen nachzusehen.
Immerhin eine halbe Million Besucher verzeichnet der Kriegsopferverband jedes Jahr auf seinen Friedhöfen allein in Frankreich. In Bastia kündete ein frisches Blumengebinde in Block 3, Reihe 3 vor dem Grab Nr. 64 von einem solchen Besuch. Hier liegt Viktor Schulz, Obermaat, geboren am 1. August 1919, gestorben am 12. Oktober 1944. Auf der Schleife des Gebindes steht: „Im
Gedenken Deine Kinder, Enkel und Urenkel“. In Block 7, Reihe 2, Grab 52 ruht Obergrenadier Narziß Steck. Er wurde am 26. März 1907 in Stöttwang im heutigen Landkreis Oberallgäu geboren und starb am 12. November 1945 im Kriegsgefangenen-Lazarett bei Ajaccio. Ein vom Volksbund verbreitetes Sterbebildchen weckte wehmütige Erinnerungen an ihn.
Auch damit in fernerer Zukunft Opfer vergangener Kriege nicht der Vergessenheit anheimfallen, ist der Volksbund längst in einen intensiven Dialog mit der Jugend getreten. Friedenspädagogische Arbeit an Schulen wird dabei immer wichtiger. Andere, deutlich „sprechende“Lernorte sind Kriegsgräber. Sorge um den „Staubfaktor“solcher Thematiken muss man sich aktuell nicht machen, wirbt doch etwa die Bundeswehr gegenwärtig um Nachwuchs mit dem Slogan, dass der „Weltfrieden defekt“sei.
Abgesehen davon bleibt der Volksbund vor allem in Osteuropa mit der fundamentalen Aufgabe noch einige Zeit ausgelastet, Gefallene zu bergen, wo immer es möglich ist, sie zu identifizieren und Angehörige zu benachrichtigen. Seit der „Wende“1989 sind 900 000 Soldaten exhumiert und auf Sammelfriedhöfe umgebettet worden. 2018 kamen zusätzlich 24 000 neue hinzu (siehe Artikel „Drohne über Stalingrad“auf dieser Seite).
Ausgesprochen historisch-exotische Bagatellen sind demgegenüber zwei Exempel sehr nachhaltigen Erinnerns und Gedenkens: Zum einen wurde bei Metz im Lothringischen ein Denkmal noch aus dem Krieg 1870/1871 wieder ansehnlicher gemacht, und eine weitere Sanierung fand in Nazareth statt. Die Stadt im Heiligen Land war im Ersten Weltkrieg Sitz eines „Gruppenkommandos“des deutschen Heeres und vieler Stäbe. Dort wurde die marode gewordene Mauer des Friedhofs, auf dem 261 deutsche Gefallene ruhen, instandgesetzt.
Ausgerechnet in diesem Wallfahrtsort der Christen, ausgerechnet im Jahr seines 100-jährigen Bestehens wollte sich der Volksbund wohl nichts nachsagen lassen.
Die Insel war nur ein Nebenkriegsschauplatz
Sterbebildchen für einen Allgäuer