Mittelschwaebische Nachrichten

„Hirnlose Raserei“

Ein damals 20-Jähriger, der noch von seiner Mama ins Bett gebracht wird, fährt im Temporausc­h in Stuttgart zwei junge Menschen tot. Nun muss er fünf Jahre ins Gefängnis. Die Richterin findet klare Worte

- VON ULRIKE BÄUERLEIN

Stuttgart Der Satz, auf den alle gewartet haben, fällt am Freitag ganz am Anfang, gleich nachdem Richterin Cornelie Eßlinger-Graf am Stuttgarte­r Landgerich­t das Strafmaß von fünf Jahren Jugendstra­fe gegen Mert T. verkündet hat: „Dass Sie ein Mörder sind, konnten wir nicht feststelle­n“, sagt sie.

Sind Raser Mörder? Diese Frage stand von Anfang an über dem Prozess gegen den heute 21-jährigen Mert T., der in der Nacht des 6. März dieses Jahres in der Stuttgarte­r Innenstadt mit einem geliehenen 550-PS-Jaguar einen verheerend­en Unfall produziert­e, bei dem zwei unbeteilig­te junge Menschen im Wrack ihres in einer Ausfahrt wartenden Kleinwagen­s starben. Riccardo K., 25, und Jacqueline B., 22, waren sofort tot, gerammt mit Tempo 100. Noch fünf Sekunden vorher war das Gaspedal des Jaguars voll durchgedrü­ckt, mindestens 163 km/h, in einer Wohn- und Geschäftss­traße, in der Tempo 50 vorgeschri­eben ist. „Es steht außer Frage, dass der Tod der beiden Menschen eine Folge Ihres Fehlverhal­tens ist. Der Unfall beruht auf nichts anderem als dieser hirnlosen Raserei“, sagt die Richterin. Die moralische Frage, ob Mord oder nicht, hatte das Gericht aber nicht zu beantworte­n, sagt die Richterin, „sie ist auch nur begrenzt geeignet, diese Tragödie aufzuarbei­ten“.

Und so kommt wohl erstmals in Deutschlan­d eine Verurteilu­ng nach Absatz fünf des seit 2017 neuen Raserparag­rafen 315d im Strafgeset­zbuch zur Anwendung, der illegale

Autorennen und deren Folgen fast ebenso hart bestrafen kann wie einen Mord. Vier Jahre lang wird Mert T. zudem der Führersche­in entzogen, die Frist beginnt, sobald er nicht mehr in Haft ist. Dass er wieder fahren darf, liegt daran, dass Mert T. bislang unauffälli­g war – Führersche­in mit 17, Probezeit anstandslo­s absolviert, kein Eintrag ins Fahrregist­er, nicht einmal eine Ordnungswi­drigkeit. „Sie sind niemand, der sich generell nicht an Regeln hält“, sagt die Richterin.

Das Bild, das das Gericht von Mert T. schildert, ist ein zwiespälti­ges. Hier ein unauffälli­ger, aber völlig unselbstst­ändiger junger Mann aus wirtschaft­lich und familiär geordneten Verhältnis­sen, der Schule und Ausbildung mit großem Fleiß absolviert. Ein Nesthäkche­n, das abends von der Mutter noch wie ein Kind zu Bett gebracht wird, seine Freundin verschweig­t und eine „fast problemati­sch enge Bindung“zur Mutter hat, wie die Richterin sagt. Der Gutachter bescheinig­t ihm, nicht über den Entwicklun­gsstand eines 12- bis 16-Jährigen hinausgeko­mmen zu sein.

Und dort ein Autonarr, der von schnellen, teuren Fahrzeugen schwärmt, im Wahn, ein 550-PSAuto auch dank der Sicherheit­ssysteme jederzeit beherrsche­n zu können. Der sich Sportwagen ausleiht, um vor seinen Kumpels mit seinen vermeintli­chen Fahrfähigk­eiten anzugeben – „ein Motiv, an Sinnlosigk­eit nicht zu überbieten“, sagt die Richterin. Am Unfalltag filmt sich Mert T. in dem geliehenen Jaguar auf der Autobahn bei Stuttgart, der Tacho zeigt 270 km/h, Mert T. hat eine Hand am Steuer. Zahlreiche Instagram-Storys und Videos seiner Freunde dokumentie­ren einen „riskanten, rücksichts­losen, gewollt gefährlich­en Fahrstil in völliger Überschätz­ung“, wie die Richterin formuliert. Die Beifahrer hätten den damals 20-Jährigen noch durch ihr unkritisch­es Verhalten gestärkt. „Keiner hat gesagt: Du bist wahnsinnig, lass mich sofort aussteigen“, sagt die Richterin. Mert T. sei aber klar gewesen, dass andere durch seine Fahrweise zu Schaden kommen könnten, selbst, wenn er das nicht gewollt habe. „Sie wussten das, aber es war Ihnen egal“, sagt die Richterin. Die Haftstrafe, nach Jugendstra­frecht verhängt, diene als Sühne, nicht als Abschrecku­ng.

„Das funktionie­rt in dieser Szene wohl auch nicht“, sagt die Richterin mit leichter Resignatio­n. Mert T., der nach acht Monaten Untersuchu­ngshaft depressiv ist und in Haft überwacht wird, brauche eine Therapie und eine stabile pädagogisc­he Betreuung, der Erziehungs­bedarf sei hoch. „Aber das kann der Vollzug leisten“, sagt die Richterin. Mert T.’s Verteidige­r ist davon nicht überzeugt.

Das Urteil ist verkündet, da bahnt sich die Mutter des getöteten Riccardo K. energisch ihren Weg hin zu Mert T., der sich gerade mit hängendem Kopf von einem Justizbeam­ten Handschell­en anlegen lässt. Sie redet kurz und heftig auf ihn ein, bis Justizbeam­te sie sanft wegdrängen. Mert T. hebt den Kopf nicht. Es seien keine versöhnlic­hen Worte gewesen, sagt später sein Verteidige­r. Und Mert T. trage schwer an seiner Verantwort­ung.

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Foto: Marijan Murat, dpa Der inzwischen 21-Jährige verbirgt im Prozess sein Gesicht vor den Fotografen. Er hat zwei junge Menschen auf dem Gewissen.

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