Mittelschwaebische Nachrichten
Die Heimat der ?
Die USA gelten als „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“. Dabei standen und stehen diese Möglichkeiten nur wenigen Menschen zur Verfügung. Von Image und Wirklichkeit
Zwei Motorräder, Marke HarleyDavidson, fahren eine staubige Straße entlang, ringsum Ödnis. So beginnt „Easy Rider“. Der Film von 1969 wurde rasch zum Kult – fängt er doch das Lebensgefühl einer Generation ein: Die USA, das Land der Freiheit, dort kann jeder alles sein. Was der Film seinem Publikum damals aber auch zeigte: Die Gesellschaft setzt der Freiheit enge Grenzen. Dabei wurde die Verfassung des Landes von Beginn an extrem liberal aufgefasst. Größtmögliche negative Freiheit – die Freiheit vor äußeren Einschränkungen – wurde zu einem Identitätsanker der Vereinigten Staaten. Der Mythos der „Frontier“, des Grenzlandes, ist der zweite Anker der amerikanischen Nation. Die Freiheit zur Besiedlung des besitzlosen Landes, was es nie war, wurde zur Freiheit der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten des „American Dream“. Damit ging eine Marginalisierung und Exklusion von Minderheiten einher.
Freiheit – in der Definition von Hannah Arendt – kennt weder Not noch Furcht. Erst, wer als Gleicher unter Gleichen am öffentlichen politischen Leben teilnehmen kann, sei wahrhaft frei, bilanziert Arendt in ihrer Essaysammlung „Die Freiheit, frei zu sein“. Das „Land Of The Free“also nichts als eine Illusion? Der größte Marketingerfolg der Geschichte?
Welch ein Anblick die Freiheitsstatue im Hafen New Yorks den Millionen gewesen sein muss, die während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vor der Misere in Europa in die Neue Welt flohen. „Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen“, dichtete die Amerikanerin Emma Lazarus und setzte der Statue damit ein Denkmal. Doch erwartete jene geknechteten Massen keineswegs die Freiheit. Jahrelang schufteten sie in einem System der Schuldknechtschaft ihre Kosten für die Überfahrt ab. Waren diese schließlich bezahlt, fristeten die meisten ihr Leben in schimmligen Mietskasernen oder irgendwelchen Holzverschlägen in den Weiten des Landes. Sie waren, nach Abschaffung der Sklaverei, die gesichtslosen Legionen, die in den Fabriken des Frühkapitalismus ihre 18-Stunden-Tage fristeten.
Auf dem Rücken jener durch die Sklaverei Unterdrückten finanzierten die Vereinigten Staaten nicht nur ihren Unabhängigkeitskrieg – auch George Washington und Thomas Jefferson waren Sklavenhalter. Sklaven stellten auch die wesentliche Wirtschaftskraft in vielen Bundesstaaten dar. Der im Regierungssystem der USA angelegten Freiheit standen immer die Tatsächlichkeiten von Rassismus und Sklaverei gegenüber. Für all die Unterdrückten war die „Freiheit von Angst“, wie es US-Präsident Franklin D. Roosevelt 1941 formulierte, über weite Strecken der Landesgeschichte keiren.
Option. Während Europa nach dem Ersten Weltkrieg den Wohlfahrtsstaat entdeckte, galt in den USA das Primat der privaten Fürsorge. Lag das am tiefen protestantischen Glauben, wie es Max Weber in seinem Werk „Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“diagnostizierte – nur wer göttliches Wohlgefallen genießt, wird reich, und vice versa? Oder lag es an dem amerikanischen Charakter inhärenten Glauben, die Welt sei eine Sache der Vorstellung? Jeder könne allzeit vom Tellerwäscher zum Millionär werden. So analysiert es der Kultur-Journalist Kurt Andersen in „Fantasyland“.
Dabei gelang es erst Franklin D. Roosevelt mit seiner als „New Deal“bekannt gewordenen Wirtschaftspolitik ab 1933, das Freiheitsmonopol der Wohlhabenden zu brechen. Nun begann Amerika, das „Land of the Free“zu werden. Banken und Finanzmärkte wurden reguliert, eine Sozial-und Rentenversicherung eingeführt, Frauen erhielten mehr Einfluss im öffentlichen und privaten Leben – der „wahre New Deal für das Volk“sei mit dem Erwachen der Frauen verbunden, so Eleanor Roosevelt. Nur die Rassentrennung blieb bestehen, bis in den 1960er Jahren Martin Luther King und die Bürgerrechtsbewegung sie schließlich überwanden. Die USA entwickelten bis in die 80er Jahre hinein eine Sozial- und Wirtschaftspolitik, die sich auch um die Freiheit der schwachen Mehrheit bemühte. Dann jedoch geschah etwas, zumindest in der westlichen Welt, Kurioses: Die mächtigste Nation der Erde wählte einen nachrangigen Schauspieler zu ihrem Präsidenten.
Unter Ronald Reagan begann die Metamorphose der Republikaner zu einer Partei der Libertären, Reichen, Evangelikalen und Reaktionäne Sozial-, Bildungs-, oder Gesundheitspolitik wurden privatisiert. Die einflussreichste Denkerin – wenn man sie denn so nennen mag – dieser Bewegung war Ayn Rand. Ihr belletristisches Hauptwerk „Atlas wirft die Welt ab“verkauft sich bis heute millionenfach. Darin skizziert Rand die Segnungen eines radikalen Laissez-faire-Kapitalismus, der sein Heilsversprechen in einer Welt ohne staatliche Regulierung sieht, Steuern für Diebstahl hält und Armut für ausnahmslos selbst verschuldet. In Rands Weltanschauung sind Kapitalisten die Guten – je reicher, desto besser – und ihre Kritiker unterbelichtete Diebe und Mörder. Seither propagieren einflussreiche Republikaner die totale Freiheit der wenigen – mit Erfolg.
Wer in den USA 1940 geboren wurde, hatte eine Chance von 92 Prozent, mehr zu verdienen als seine Eltern. 1980 betrug diese Chance gerade einmal noch 50 Prozent. Die Lebenserwartung Neugeborener in den USA sinkt – in keinem anderen
Der „American Dream“ist ein hohles Versprechen
Mehr Menschen denn je sind heute nicht frei von Angst
westlichen Staat ist das der Fall. Heute zahlen die reichsten Amerikaner weniger Steuern als die ärmsten. Fast 50 Millionen US-Bürger sind auf Lebensmittelmarken angewiesen, Millionen von ihnen leiden und sterben in der Opioid-Krise, verursacht durch einen Milliardärsclan. Etwa 25 Prozent aller Gefängnisinsassen weltweit sitzen in den USA ein, wo ihre Arbeitskraft in einem oft sklavenartigen Dasein ausgebeutet wird. Die meisten von ihnen sind schwarz oder gehören einer anderen Minderheit an. Der „American Dream“ist ein hohles Versprechen geworden.
Leere Versprechungen macht auch jener Präsident, den die Amerikaner im Jahr 2016 wählten – ein Feind der Freiheit der vielen. Donald Trump könnte direkt dem Roman von Ayn Rand entsprungen sein. Vielleicht ist er der Höhepunkt des amerikanischen Fiebertraums der Freiheit. Er hetzt gegen Andersdenkende oder -seiende, verdreht Tatsachen zu seiner persönlichen Wahrheit, gewährt den Reichen Steuererleichterungen, treibt die Privatisierung des Bildungssystems voran und verficht die Herrschaft des Stärksten. In seiner Dialektik gibt es nur Freiheit für den Sieger, und das um jeden Preis. Unter Trump verzeichnen die USA eine Rekord-Staatsverschuldung, ohne dass diese dem Allgemeinwohl zugutekäme. Mehr Menschen denn je sind nicht frei von Angst. Auch 2019 bleibt es ein Traum, das „Land Of The Free“.
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