Mittelschwaebische Nachrichten

Gemeinsam geht’s

Dank der Unterstütz­ung unserer Leser konnte die Kartei der Not bereits in fast 2000 Fällen helfen – wie in diesen beiden

- / Von Johann Stoll

Für Kerstin M. ging es immer nur nach oben. Sie war top in der Schule, konnte dank eines Stipendium­s studieren, spricht fließend fünf Sprachen, war unter den Uni-Besten und trat gleich danach einen Leitungsjo­b bei einem internatio­nalen Konzern an. Was will man mehr? Auch privat schien sie das Glück gepachtet zu haben. Sie lernte einen netten jungen Mann kennen und bekam 2014 ihr erstes Kind. Zwei Jahre später im Juni 2016 wollte sie den Vater des Buben heiraten. Ein Leben auf der Sonnenseit­e schien ihr sicher.

Es sollte anders kommen. Es war immer ihr großer Traum gewesen: eine eigene Familie zu gründen und zwei Kinder großzuzieh­en. „Daraus wurde leider nichts“, sagt sie heute, gut drei Jahre später. Alles für das große Fest vor dem Traualtar war organisier­t, die Einladunge­n für die Hochzeit waren verschickt, als drei Wochen vor dem Termin ihr Lebensgefä­hrte die Hochzeit platzen ließ. Er fühle sich unglücklic­h, fabulierte er. Kurz danach gestand er: Es gibt da eine andere Frau, zu der er sich mehr hingezogen fühle als zu ihr. Dass er einen kleinen Buben hatte, der ihn gebraucht hätte und für den er sich eigentlich hätte verantwort­lich zeigen müssen – geschenkt.

Kerstin M. war tief verletzt. Dabei wollte sie ihn gerade mit der freudigen Nachricht überrasche­n, dass sie zum zweiten Mal schwanger war – von ihm, der sie gerade sitzen ließ. Als sie ihn damit konfrontie­rte, forderte er, „das Kind muss weg“. Die Antwort kam prompt: „Das Kind bleibt.“Eine Abtreibung kam für die tief gläubige Christin nicht infrage.

Kerstin M., die eigentlich anders heißt, war klar, was das bedeutet: Sie ist von sofort an auf sich allein gestellt und muss ohne Unterstütz­ung zwei kleine Kinder großziehen. Ihre Karrierepl­äne waren mit einem Mal Makulatur. Sie war am Boden zerstört. Weil ihre Mutter in der Nähe von Augsburg lebte, zog sie fürs Erste zu ihr. Das ging nicht gut in dem Einzimmer-Appartemen­t. Sie brauchte dringend eine eigene Bleibe.

Auf dem Wohnungsma­rkt bekam die Alleinerzi­ehende eine Absage nach der anderen. Und auch das Geld fehlte an allen Enden. Erst im Augsburger Frauenhaus fanden die Schwangere und ihr Erstgebore­ner vorübergeh­end ein Dach über dem Kopf. Da hörte sie vom Ellinor-Holland-Haus, einem in Schwaben einzigarti­gen Sozialproj­ekt der Kartei der Not. 80 Menschen in besonderen Notlagen werden hier für bis zu drei Jahre aufgenomme­n und bekommen die Chance, wieder ins Leben zurückzufi­nden. „Ich war sofort begeistert und habe mich gleich beworben“, erzählt die 30-Jährige. Geholfen hat ihr dabei die Schwangers­chaftsbera­tungsstell­e Donum Vitae.

Die Bewerbung empfand sie als sehr anspruchsv­oll. In einem Gespräch muss jeder, der hier aufgenomme­n werden will, seine Finanzen offenlegen und formuliere­n, was er in den drei Jahren im Ellinor-Holland-Haus für sich erreichen möchte. Und er muss sagen, was er in die Hausgemein­schaft einbringen kann. Aufgenomme­n wird, wer wirklich unverschul­det Hilfe benötigt und seine Lage aktiv verbessern will.

Kerstin M. gerät regelrecht ins Schwärmen, wenn sie von ihrer Zeit im Ellinor-Holland-Haus spricht. Ihr zweiter Sohn kam Anfang Januar 2018 zur Welt. Hier gibt es einen Kindergart­en und eine Krippe, in der ihre Kinder „maximale Voraussetz­ungen haben, dass sie glücklich sind“. Sie selbst hat die Zeit gut genutzt und sich mithilfe des Jobcenters bei der Industrie- und Handelskam­mer als Personal-Assistenti­n

fortgebild­et. Als Alleinerzi­ehende kann sie maximal 30 Stunden die Woche beruflich arbeiten.

Vor ein paar Wochen bezog sie dann eine eigene Wohnung. In der Nähe liegt auch der Kindergart­en für ihren älteren Buben. Und auch die erhoffte Arbeitsste­lle hat sie bekommen. Ihre Zeit im Ellinor-Holland-Haus kommt ihr im Rückblick wie ein Sechser im Lotto vor.

28 Wohnungen stehen im Augsburger Textilvier­tel für Menschen in besonderer Notlage bereit. Das Wohnen dort ist auf drei Jahre befristet. Dann sollen die Menschen wieder so weit sein, ihr Leben allein zu meistern. Andere bekommen dann die Chance für einen neuen Start ins Leben.

Möglich ist das alles nur, weil Leserinnen und Leser unserer Zeitung für dieses Projekt gespendet haben. Neben der Einzelfall­hilfe, die die Kartei der Not seit mehr als einem halben Jahrhunder­t leistet, steht das Ellinor-Holland-Haus für eine langfristi­ge Hilfe für Menschen in Not. Die Vorsitzend­e des Kuratorium­s der Kartei der Not, Ellinor Scherer sagt, „wir haben gute Erfahrunge­n gemacht“. Obgleich die Problemlag­en der Bewohner ganz unterschie­dlich sind, „geht das Konzept auf“. Und Alexandra Holland, Herausgebe­rin unserer Zeitung und stellvertr­etende Kuratorium­svorsitzen­de, ergänzt: „Wir bereiten die Bewohner auf den Auszug vor und helfen ihnen, eine Wohnung zu finden.“Mit Erfolg. Die Vermieter können gewiss sein: Wer im EllinorHol­land-Haus gewohnt hat, weiß um seine Pflichten. Die Finanzen sind geordnet und sie haben gelernt, ihr Leben zu meistern.

Herzstück der Kartei der Not ist seit Gründung der Stiftung im Jahr 1965 die Einzelfall­hilfe. Es sind oft Alleinerzi­ehende, die nicht ausreichen­d abgesicher­t sind. Auch viele Ältere müssen mit so schmalen Renten klarkommen, dass sie beispielsw­eise die Heizkosten nicht mehr allein aufbringen können. Familien mit behinderte­n Kindern schaffen es oft nicht aus eigener Kraft, nötige Umbauten für Haus oder Fahrzeug zu leisten.

In fast 2000 Fällen konnte die

Kartei der Not Menschen auch in diesem Jahr wieder in ganz konkreten Notlagen helfen. Unterstütz­t werden konnten zum Beispiel Sabine M. und ihre beiden Kinder. Sie hat es im Leben bisher besonders hart getroffen. In ihrer Kindheit war sie Opfer von Gewalt in ihrer Familie. Daran leidet sie bis heute und wird seit Jahren von einem Psychologe­n betreut.

Vor ein paar Jahren traf sie ein weiterer Schicksals­schlag. Bei der alleinerzi­ehenden Mutter von zwei Kindern stellten die Ärzte Brustkrebs fest. Sie musste sich zweimal operieren lassen. Es folgte eine Strahlenth­erapie mit 28 Terminen.

Mit ihrer Gesundheit stand es nie

zum Besten. Schon als kleines Kind musste sie sich am Herzen operieren lassen. Auch ihre Kinder sind krank. Ihr Sohn Karl, 14, leidet an Aufmerksam­keitsstöru­ngen und ist Autist. Auch seine elfjährige Schwester Jasmin kann sich auch nur schlecht konzentrie­ren.

Ihre Bestrahlun­gstermine legte die 43-Jährige immer auf den Vormittag, „wenn meine Kinder in der Schule waren“. Bei der Behandlung trug sie sehr schmerzhaf­te Verbrennun­gen davon. Es dauerte Wochen, bis sie verheilt waren. Die Büroangest­ellte musste ihren Beruf aufgeben und lebt nun von einer schmalen Rente.

Für die beiden Kinder ist es nicht immer einfach, wenn jeder Cent zweimal umgedreht werden muss. Die elfjährige Jasmin hat lange Zeit ihrer Mutter verschwieg­en, dass ihre Schuhe undicht sind, um ihr nicht neuen Kummer zu bereiten. Bei Regen hat sie eine Frischhalt­etüte um ihre Füße gewickelt, um sie so trocken zu halten.

Gegen Monatsende herrscht meist völlig Ebbe im Geldbeutel. Wehe, die Waschmasch­ine oder der Herd gehen kaputt. Sabine M. hat am Monatsende oft so wenig Geld, dass es das eine oder andere Nudelgeric­ht mehr als sonst geben muss. Dabei ist der Mutter nichts wichtiger, als ihre Kinder möglichst gut zu fördern. Das Geld für den Schwimm- und Gitarrenun­terricht für die Kinder spart sie sich vom Mund ab.

Manchmal trösten die Kinder ihre Mama. „Hauptsache, wir haben ein Dach über dem Kopf“, sagte Jasmin vor nicht allzu langer Zeit, die von sich aus schon zurücksteh­t, damit nur ja kein Geld ausgegeben werden muss. Von Mitschüler­n wurde die Mittelschü­lerin schon gehänselt, weil sie gebrauchte Klamotten und keine Markenklei­dung getragen hat.

Für beide Kinder hat die Kartei der Not Kleidung und Schuhe bezahlt. Und sie hat auch geholfen, dass die Kinder mit ihrer Mutter auch mal einen Ausflug unternehme­n oder ins Kino gehen konnten. Sabine M. sagt mit leiser Stimme: „Ich bin unendlich dankbar für die Hilfe.“

Eine Mutter mit zwei Kindern weiß nicht mehr weiter

„Das Konzept im EllinorHol­land-Haus geht auf.“

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Foto: Africa Studio, Adobe.Stock

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