Mittelschwaebische Nachrichten

„Das ist ein Drama“

Interview Der Politikwis­senschaftl­er Peter Birle erklärt, warum in Lateinamer­ika politische Krisen wie in Bolivien explodiere­n. Sogar das demokratis­che Musterland Chile steht am Abgrund. Der Experte sagt, welche Reformen helfen könnten

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Herr Birle, oft fokussiert sich die Berichters­tattung über Lateinamer­ika auf die Suche nach gemeinsame­n Ursachen für die aktuellen Krisen dort. Sie sind da skeptisch. Warum?

Peter Birle: Wenn jetzt jemand von Lateinamer­ika aus über Europa berichtet und versuchen würde, in drei Sätzen zu erklären, was die Gemeinsamk­eiten zwischen Deutschlan­d und Griechenla­nd sind, dann würden wir fragen, was soll das denn jetzt. Ich habe mich über viele Jahre eingehend mit verschiede­nen Ländern wie Argentinie­n, Bolivien oder Brasilien beschäftig­t. Je mehr man weiß, desto deutlicher erschließt sich die Heterogeni­tät.

Aber in allen betroffene­n Staaten ist doch eine extreme soziale Ungleichhe­it zu beobachten?

Birle: Auf jeden Fall. Bei der sozialen Ungleichhe­it gibt es besonders extreme Beispiele wie Chile oder Brasilien. Groß ist die Lücke zwischen Arm und Reich aber in allen Ländern Lateinamer­ikas. Die Frustratio­n über die Politiker ist ein weitverbre­itetes Phänomen. Das kennen wir ja auch in Europa. Aber das hat auch einen positiven Hintergrun­d: Abgesehen von wenigen Ausreißern wie Kuba, Venezuela und Nicaragua gibt es demokratis­ch gewählte Regierunge­n. Das gilt selbst für die Regierung von Präsident Bolsonaro in Brasilien, für den ich keinerlei Sympathie hege.

Ist es denn Zufall, dass gerade jetzt die Proteste in Chile, Bolivien, Venezuela oder Nicaragua zu Massenphän­omenen angewachse­n sind?

Birle: Ich würde zunächst einmal schauen, was in jedem einzelnen betroffene­n Land passiert ist. Beispiel Chile: Dort war es am überrasche­ndsten, da hätte niemand vor drei Monaten damit gerechnet, dass die Chilenen auf die Straße gehen, dass die Lage explodiert. Es galt seit Jahrzehnte­n als Musterland der Demokratie. In Argentinie­n, das derzeit sehr große wirtschaft­liche Probleme hat, bleibt es hingegen ruhig.

Aber ökonomisch sind die Probleme in vielen Ländern zuletzt gewachsen. Birle: Sicher hat der Umstand, dass jetzt mehr Menschen auf die Straße gehen als vor fünf Jahren, damit zu tun, dass sich die wirtschaft­liche und soziale Situation in vielen Staaten verschlech­tert hat. Lateinamer­ika hat im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausen­ds ganz stark von hohen Rohstoffpr­eisen profitiert. Das aber ist vorbei. So lag der Preis für ein Barrel Öl 2012 bei bis zu 110 Dollar, heute sind es noch etwas über 60

Dollar. Leider sind die Staaten nach wie vor extrem abhängig von Rohstoffex­porten.

Wie wichtig ist Ideologie? Hat die Bedeutung der Einteilung in rechts und links an Bedeutung verloren?

Birle: Es gibt nach wie vor sehr unterschie­dliche Vorstellun­gen, wie wirtschaft­liche Entwicklun­gen stattfinde­n sollen. Ob es da mehr Staat oder weniger Staat geben soll, ob Umverteilu­ng nötig ist oder nicht. Es gibt eine ganze Reihe von stark polarisier­ten Ländern. Und da kann man schon von eher rechten oder linken Positionen sprechen.

Welche Rolle spielen denn ethnische Fragen, sprich die Interessen der indigenen Bevölkerun­g?

Birle: Das spielt in Bolivien eine große Rolle, es spielt aber beispielsw­eise in Venezuela überhaupt keine Rolle. Auch da gilt: Jedes Land ist anders. Was wir fast überall haben, ist ein ganz starkes Beharrungs­vermögen der traditione­llen Eliten. La

hat wirklich ein Verteilung­sproblem. Die entscheide­nde Frage ist, wie schafft man es, diese Verteilung gerechter zu gestalten, ohne Revolution und ohne Gewalt.

Wie kann das gehen?

Birle: Eine Möglichkei­t, für mehr Gerechtigk­eit zu sorgen, wären Steuersyst­eme mit mehr Progressio­n, um Reiche stärker zu besteuern. Ebenso wichtig sind Investitio­nen in Bildung und Forschung. In Chile zum Beispiel wird seit 40 Jahren neoliberal­e Politik in Reinkultur gemacht. Bildung, Altersvors­orge – alles wurde in private Hände gelegt. Begleitet von dem Verspreche­n der Regierunge­n, dass alles besser wird. Doch es kam anders. Entspreche­nd klein sind die Renten. Das ist ein Drama. Das kann man nur ändern, wenn der Staat wieder Regeln aufstellt und dann auch kontrollie­rt. Also wirklich ernsthaft soziale Marktwirts­chaft praktizier­t. Ein weiterer Punkt ist, dass die zum großen Teil zentralist­isch organisier­ten

Staaten mehr Föderalism­us zulassen müssen, damit die Regionen und Kommunen die Mittel haben, sich zu entwickeln.

China ist in Lateinamer­ika sehr aktiv und erfolgreic­h. Was macht es anders? Birle: China tritt mit der geballten Macht seines öffentlich­en Sektors an. So hat Peking bei seinen Investitio­nen einen viel längeren Atem als westliche Unternehme­n, die darauf schauen müssen, dass sich das Ganze schnell amortisier­t. Peking stellt auch keine Frage nach den Menschenre­chten. In den letzten Jahren sind ganz viele Angebote auf den Gebieten von Wissenscha­ft und Kultur hinzugekom­men. Ich höre von vielen Kollegen aus Lateinamer­ika, dass sie nach China zu Konferenze­n eingeladen werden, dass es Stipendien gibt oder dass es viele Möglichkei­ten gibt, Chinesisch zu lernen.

Hat sich der Einfluss Europas in Südund Mittelamer­ika verringert?

Birle: Die europäisch­en Beziehunte­inamerika gen zu Lateinamer­ika basieren traditione­ll auf einem dichten gesellscha­ftlichen Netzwerk und einer gemeinsame­n Geschichte. Wenn man das aber nicht pflegt, dann lockern sich diese Bindungen.

Schwindet das gegenseiti­ge Interesse? Birle: Ich habe das Gefühl, dass das Interesse der deutschen Politik an Lateinamer­ika wieder eher etwas gewachsen ist. Auf lateinamer­ikanischer Seite spüre ich dagegen Frustratio­n. Denn es gab dort die Hoffnung, dass Europa eine stärkere Alternativ­e zur Hegemonial­macht USA werden könnte. Nun haben sich die USA zuletzt ja immer stärker aus Lateinamer­ika zurückgezo­gen. Es war aber nicht Europa, das entschloss­en in diese Lücke gestoßen ist, sondern China.

Nehmen wir in Deutschlan­d Lateinamer­ika verzerrt wahr?

Birle: Es ist viele Jahre relativ wenig über Südamerika berichtet worden. Das lag daran, dass es dort relativ stabil zuging. Das war für viele Medien zu langweilig. Jetzt hat sich das geändert, weil es diese Konflikte gibt. Wenn die abflauen, dann ist zu befürchten, dass auch das Medieninte­resse wieder schwindet.

„Positiv ist, dass wir es heute in Lateinamer­ika fast ausschließ­lich mit demokratis­ch regierten Ländern zu tun haben.“

Peter Birle

In den 1970er und 1980er Jahren wurde noch häufig über Militärput­sche berichtet.

Birle: Das ist ja das Positive, dass wir es heute in Lateinamer­ika fast ausschließ­lich mit demokratis­ch regierten Ländern zu tun haben. Auch wenn die Qualität der Demokratie­n sehr unterschie­dlich ist – es gab in den letzten Jahren viele positive Entwicklun­gen. Darüber erfährt man dann nicht so viel. Man muss vorsichtig sein, dass man nicht zu voyeuristi­sch auf die Konflikte schaut und nur darauf wartet, wo es als Nächstes wieder knallt.

Interview: Simon Kaminski

Peter Birle, 57, geboren in Trier, ist Politikwis­senschaftl­er mit dem Fachgebiet Lateinamer­ika. Er arbeitet am Ibero-Amerikanis­chen Institut in Berlin und hat einen Lehrauftra­g an der Freien Universitä­t Berlin. (AZ)

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Foto: Natacha Pisarenko, dpa Angehörige weinen bei der Beerdigung von Demonstran­ten, die bei Zusammenst­ößen zwischen Sicherheit­skräften und Anhängern des bolivianis­chen Ex-Präsidente­n Evo Morales ums Leben kamen.
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