Mittelschwaebische Nachrichten

„Der Abschied bringt mich nicht um“

Nach fünf Jahren als Kommission­spräsident verlässt Jean-Claude Juncker die Brüsseler Bühne. Es ist das Ende einer einzigarti­gen Karriere. Was den Luxemburge­r auszeichne­t und was daheim auf ihn wartet

- VON DETLEF DREWES

Brüssel Es gibt Sätze, die begleiten einen Politiker sein ganzes Leben lang. Jean-Claude Juncker war noch ein junger Mann, als er einen der ersten deutschen Soldatenfr­iedhöfe in seiner luxemburgi­schen Heimat besuchte. Im Anblick der schier endlosen weißen Kreuze formuliert­e er seine Botschaft, die auch ein Teil seines Erbes ist: „Wer an Europa zweifelt, sollte öfter Soldatenfr­iedhöfe besuchen.“

Welches Potenzial in diesen Worten steckt, erlebte Juncker Jahrzehnte später. 2018 saß er im Oval Office neben dem amerikanis­chen Präsidente­n Donald Trump. Ihm erzählte er, dass es in Luxemburg ein Gräberfeld mit über 5000 weißen Kreuzen für im Zweiten Weltkrieg gefallene US-Soldaten gibt – und dieses Areal gehöre nicht zu Luxemburg, sondern zu den Vereinigte­n Staaten. Bis heute. Trump sei, so berichtete­n Beobachter, tief beeindruck­t und bewegt gewesen.

Jean-Claude Juncker wird in den ersten Dezember-Tagen 65 Jahre alt. Am 1. Dezember verlässt der luxemburgi­sche Christdemo­krat die europäisch­e Bühne. 20 Jahre lang war er Finanzmini­ster des Großherzog­tums, 18 Jahre zugleich Premiermin­ister, acht Jahre stand er der Euro-Gruppe vor, fünf Jahre war er Präsident der Europäisch­en Kommission, der erste auf diesem Stuhl, den die EU-Bürger 2014 direkt wählen konnten.

„Abschied tut immer ein bisschen weh, aber der Abschied bringt mich nicht um“, sagte er im Oktober, als er sich mit einer Rede vom EU-Parlament verabschie­dete. Im 13. Stock des Berlaymont, wo die Kommission in Brüssel sitzt, stehen Umzugskart­ons. Juncker kam an diesem Montag nach einer schweren Operation erstmals wieder ins Büro, das er nun für Ursula von der Leyen räumen wird.

Fragt man ihn nach seiner Bilanz, hagelt es Zahlen. Die Beschäftig­ungsquote in Europa liege bei 73,8 Prozent, sagt er. 75 Prozent hatte er selbst für 2020 als Ziel ausgegeben. Der nach ihm benannte „JunckerFon­ds“, der eigentlich „Europäisch­er Fonds für strategisc­he Investitio­nen“(EFSI) heißt, hat 450,6 Milliarden Euro für grenzübers­chreitende Projekte gebracht und eine gute Million neuer Jobs geschaffen. Die Griechenla­nd-Krise ist überstande­n, die jüngsten Zahlen sprechen von einem Erfolg.

Gut, die Umstellung der Uhren hat Juncker nicht mehr fertiggest­ellt. „Ich komme aus dem Staunen nicht heraus“, sagte er jüngst. Er habe mit seinem Vorschlag doch nur umsetzen wollen, was viele Bürger Nun liegt die Initiative auf Eis, weil sich die Mitgliedst­aaten nicht auf gemeinsame Zeitzonen einigen können. Juncker schüttelt verständni­slos den Kopf.

Dabei misslang der Auftakt zu seiner Amtszeit gründlich. Kaum hatte Juncker die Kommission ganz nach Art einer Regierungs­behörde umgebaut und wollte in die Arbeit einsteigen, fiel ihm die LuxLeaksAf­färe auf die Füße. Investigat­ive Journalist­en enthüllten, dass die luxemburgi­schen Finanzbehö­rden jahrelang Steuerspar­modelle mit Großkonzer­nen vereinbart hatten. Es schien undenkbar, dass der Premierund Finanzmini­ster davon nichts gewusst haben sollte. Juncker stellte sich an die Spitze der Bewegung, forderte seine neue Wettbewerb­shüterin zur Aufklärung auf. Heraus kamen Vorgänge, die nicht illegal, aber doch anrüchig waren – in insgesamt 24 Mitgliedst­aaten.

Ein gutes halbes Jahr später drohte die Griechenla­nd-Krise zu eskalieren – es kam zum Showdown, weil der linke Athener Regierungs­chef Alexis Tsipras ein drittes Hilfspaket zwar brauchte, aber nicht wollte. Juncker griff – an der EuroGruppe vorbei – ein und bahnte einen Kompromiss an. Der Euro war gerettet.

Wieder ein Jahr später gewann er eine Wette, die er lieber verloren hätte. „Als der damalige Premiermin­ister David Cameron mir sagte, er wolle ein Brexit-Referendum abhalten, habe ich ihm gesagt: ‚Das wirst du verlieren’. Mit dem damaligen britischen Kommissar Jonathan Hill habe ich gewettet: Ich kriege ein Pfund von dir, wenn die Remainer verlieren, du kriegst einen Euro, wenn sie gewinnen. Heute habe ich das Pfund.“Juncker übergab die Brexit-Gespräche seinem französisc­hen Freund Michel Barnier und kündigte an: „Ich werde mich pro Woche nur eine halbe Stunde mit dem Brexit beschäftig­en.“Es kam anders.

Und dann gab es da noch die Bilder, die viele mit einer Mischung aus Mitleid und Unverständ­nis registrier­ten: Juncker, der selbst bei offizielle­n Anlässen gestützt werden musste, einmal sogar im Rollstuhl geschoben wurde. Der Kommission­spräsident, der auch mal torkelte, anderen Staats- und Regierungs­chefs scheinbar taktlos um den Hals fiel, sie küsste, ihnen durch die wohlgeform­te Frisur wuschelte. Dass dies in jedem Fall Spätfolgen eines schweren Autounfall­s sein sollten, bei dem Juncker vor 30 Jahren eine schwere Rückenverl­etzung davon trug und mehrere Wochen im Koma lag, wollten viele nicht gelten lassen. Spekulatio­nen über einen zu hohen Alkoholkon­sum, teilweise sogar von politische­n Gegnern gewünschte­n. schürt, machten die Runde. Inzwischen reagiert er auf entspreche­nde Fragen nur noch mit dem Hinweis: „Ich sage dazu nichts mehr. Solche falschen Behauptung­en tun meiner Familie mehr weh als mir.“

Diese Momente mögen zu einer Bilanz gehören, sie dürfen aber nicht den Blick auf das Besondere seiner „Regentscha­ft“verstellen. Und das lässt sich auch nicht in Zahlen ausdrücken. Der Mann, den alle jahrelang „Mister Euro“nannten, der mit Preisen überschütt­et wurde, hat die EU mit etwas Besonderem geprägt: seiner persönlich­en Autorität. Dies dokumentie­rt ein Ereignis von Mitte 2018 deutlich. Der Kommission­spräsident war nach Washington gereist, weil US-Präsident Trump mit höheren Zöllen auf europäisch­e Autos drohte. In den Kommentars­palten gab es Hohn und Spott für einen aussichtsl­osen Versuch: Wieso sollte ausgerechn­et der Luxemburge­r den mächtigste­n Mann der Welt stoppen können?

Dem Spiegel erzählte Juncker vor kurzem, wie es wirklich war: „Trump hat mir gesagt, wer schon alles vor mir im Oval Office war – die Bundeskanz­lerin, Präsidente­n, Premiermin­ister –, und ich habe ihm gesagt: Die sind alle wichtig, aber du hast mit den Falschen geredet. Die Kommission ist zuständig für die Handelspol­itik, nicht die Mitgliedst­aaten. Trump sagte daraufhin: Ich möchte überhaupt keine Einigung mit der Europäisch­en Union, ich möchte eine Einigung mit dir. Ich erwiderte: In Handelsfra­gen ist die Europäisch­e Kommission allein zuständig. Eine Einigung mit mir ist eine Einigung mit der EU.“Juncker kam zurück, die Autozölle waren ausgesetzt worden. Es ist die Macht des Überzeugte­n,

Eine Affäre verhagelte den Start seiner Kommission

Spätfolgen eines Unfalls und viele Spekulatio­nen

Wie Donald Trump an den Richtigen geriet

nicht des Vertreters eines großen Mitgliedst­aates, mit der Juncker wirkte – und Politik machte. Dazu musste er immer wieder auch mal Gremien übergehen. Aber wer wollte ihm schon böse sein, wenn er erfolgreic­h blieb?

Juncker wird am 1. Dezember Brüssel verlassen. Er habe 40000 Bücher zu Hause und in seinen Büros stehen weitere 19000, sagte der scheidende Präsident. Lesen wolle er und sich weiter zu Wort melden, kündigte Juncker gegenüber unserer Zeitung an. Er wird zurückgehe­n nach Luxemburg, sich weiter von seiner Operation erholen und ohne Zweifel einer der gefragtest­en Gesprächsp­artner der Europäisch­en Union bleiben. Er habe sich „bemüht“, sagte Juncker selbst in einer seiner zahlreiche­n Abschiedsr­eden. Das ist, bei allen Problemen, Rückschläg­en und Zweifeln seiner politische­n Gegner untertrieb­en. JeanClaude Juncker hat Europa mitgebaut.

 ?? Archivfoto: Uwe Zucchi, dpa ?? Auf Jean-Claude Juncker, 64, warten bestimmt neue Aufgaben. Der Europäer aus Überzeugun­g hat schon angekündig­t, sich auch nach seinem Abgang als Kommission­spräsident zu Wort zu melden.
Archivfoto: Uwe Zucchi, dpa Auf Jean-Claude Juncker, 64, warten bestimmt neue Aufgaben. Der Europäer aus Überzeugun­g hat schon angekündig­t, sich auch nach seinem Abgang als Kommission­spräsident zu Wort zu melden.

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