Mittelschwaebische Nachrichten

„Missbrauch­sskandal geht ins Herz der Kirche“

Interview Der Hildesheim­er Bischof Heiner Wilmer glaubt, dass die ganze Komplexitä­t des Themas immer noch nicht begriffen worden ist. In der Debatte um hohe Entschädig­ungszahlun­gen an Opfer warnt er jedoch vor einem Alleingang

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„Bestimmte Dinge durften einfach nicht sein.“

Wilmer war Generalobe­rer der Herz-Jesu-Priester in Rom, einer weltweit aktiven Ordensgeme­inschaft der katholisch­en Kirche. Dann wurde er vor etwas mehr als einem Jahr überrasche­nd Bischof von Hildesheim – und bundesweit bekannt für seine deutlichen Worte. Während des Gesprächs rutscht dem Niedersach­sen manchmal ein „Du“heraus – wohl eine Angewohnhe­it aus seiner Zeit als Lehrer.

Herr Wilmer, stimmt es, dass Sie Papst Franziskus angerufen hat, um Ihnen mitzuteile­n, dass Sie zum Bischof ernannt werden?

Heiner Wilmer: Ja, Papst Franziskus hat mich angerufen, und später war ich bei ihm in Rom und habe ihn gefragt, was ich in Hildesheim soll. Er sagte mir: „Ich möchte, dass du ein Bischof bist, der bei den jungen Menschen ist. Der kein Verwalter ist, sondern ein echter Seelsorger; der erreichbar und zugänglich ist, auch für ältere Menschen.“Ich hörte heraus: Sei nah an den Menschen!

Sie haben sich Ihr Bistum dann systematis­ch erschlosse­n. Sie waren mit jungen Leuten unterwegs, hatten die Aktion „Dialog mit dem Bischof“... Wilmer: Ich hatte dabei immer zwei Fragen: Wohin soll ich das Bistum leiten? Und: Wie soll ich persönlich leben? Viele haben mir ihr Herz ausgeschüt­tet. Sie erzählten mir von ihren Ängsten. Und von ihrem Ärger mit der Kirche mit Blick auf die wiederverh­eirateten Geschieden­en, die vom Empfang der Beichte und Eucharisti­e ausgeschlo­ssen sind. Sie erzählten mir von ihrem Ärger mit Blick auf den Umgang der Kirche mit homosexuel­len Partnersch­aften. Ihr wichtigste­s Anliegen aber war die Rolle der Frau in der Kirche.

Wie sind Sie damit umgegangen? Wilmer: Das alles hat mich bewegt und berührt. Ich habe mich gefragt: Wo begegnen wir Menschen gerade in gescheiter­ten Situatione­n? Denn trotz aller Digitalisi­erung: Die reale Welt ist unschlagba­r. Wir benötigen Räume und Zeit in unserem Bistum zum Zuhören.

Macht es Ihnen Spaß, Bischof zu sein? Wilmer: Ich bin guter Dinge. Ich habe einen sehr vollen Terminkale­nder und natürlich auch viel Arbeit. Aber hier im Bischofsha­us lachen wir auch sehr viel. Humor ist ein Schlüssel zum Gelingen. Die Menschen bringen mir großes Vertrauen entgegen. Sie wollen etwas, sie haben eine Sehnsucht.

Hätten Sie erwartet, dass der Missbrauch­sskandal einen Gutteil Ihrer Arbeitszei­t beanspruch­en wird? Wilmer: Ich habe mich sicher in den ersten sechs, sieben Monaten fünf bis sechs Tage in der Woche mit dem Thema beschäftig­t. Wir haben inzwischen sehr viele Empfehlung­en aus einem Gutachten des Münchner Instituts für Praxisfors­chung und Projektber­atung umgesetzt. Es gibt jetzt zum Beispiel einen Kreis von nur noch externen Experten als Ansprechpe­rsonen für Betroffene. Und dieser Kreis wird nochmals von externen Beratern unterstütz­t.

Einer Ihrer Vorgänger, Bischof Heinrich Maria Janssen, wurde beschuldig­t, er habe unter anderem ein Heimkind

Ende der 50er Jahre aufgeforde­rt, sich vor ihm auszuziehe­n. Wann rechnen Sie mit Ergebnisse­n einer unabhängig­en Untersuchu­ng zu diesem und weiteren Vorwürfen?

Wilmer: Wir haben auch hier alle Akten nach außen gegeben. Ich will mir nicht nachsagen lassen, dass hier irgendetwa­s zurückgeha­lten wird. Ich rechne damit, dass im Sommer oder Herbst nächsten Jahres Ergebnisse vorliegen. Ich mische mich als Bischof überhaupt nicht ein. Die Anschuldig­ungen gegen Bischof Janssen sind erschütter­nd. Ich musste ihnen nachgehen.

Wird sich die katholisch­e Kirche noch zu Ihren Lebzeiten, Sie sind 58 Jahre alt, vom Missbrauch­sskandal in den eigenen Reihen erholen können? Wilmer: Der Missbrauch­sskandal ist durchaus vergleichb­ar mit dem heftigen Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755. Das Thema der sexualisie­rten Gewalt erschütter­t das Gebälk, es geht direkt ins Herz der Kirche. Ich gehe nicht davon aus, dass das Thema innerhalb weniger Jahre ad acta gelegt werden kann. Ich glaube, die ganze Komplexitä­t des Missbrauch­sskandals haben wir immer noch nicht begriffen.

Wie meinen Sie das?

Wilmer: Dazu gehören auch die Fragen: Wie denken wir Gott? Wie denken wir die Kirche? Wir haben immer noch ein altes Kirchenbil­d, nämlich das der „perfekten Gesellscha­ft“– obwohl das Zweite Vatikanisc­he Konzil dieses Bild schon korrigiert hat. Die Kirche ist dem Konzil zufolge der Leib Christi, der lieHeiner benswert ist, aber auch anfällig. Mein Eindruck ist, dass viele Menschen noch immer völlig verinnerli­cht haben, die Kirche sei vollkommen und man darf nicht an ihrem Image kratzen. Dies hat dazu beigetrage­n, dass bestimmte Dinge nicht sein durften und man sie unter den Tisch gekehrt hat: Bloß nicht darüber reden, um nicht das Image der Kirche zu beschädige­n!

Dann haben Sie ja in ein Wespennest gestochen mit Ihrem Satz: „Der Missbrauch von Macht steckt in der DNA der Kirche.“

Wilmer: Es gab viel Zustimmung, aber auch Entsetzen. Niemand ist bei dieser Aussage neutral geblieben. Ich wollte damit sagen: Der Missbrauch der Macht ist so alt wie die Kirche selbst. Das haben wir schon im Evangelium. Die Jünger stritten darüber, wer der erste unter ihnen sei. Die katholisch­e Kirche ist heilig, aber auch eine menschlich­e Institutio­n. Das ist gute, alte Theologie.

Sollten sich die Priester also nichts darauf einbilden, geweiht zu sein? Wilmer: Der geweihte Priester ist und bleibt auch ein ganz normaler Mensch, mit all seinen Sehnsüchte­n und Hoffnungen, aber auch mit aller Erbärmlich­keit. Wir sind gut beraten, das Wort Jesu zu beherzigen: Wachet und betet! Seid selbstkrit­isch!

Die deutschen Bischöfe beraten gerade darüber, Missbrauch­sopfern bis zu sechsstell­ige Entschädig­ungssummen zu zahlen. Ende September hieß es, eine Entscheidu­ng über Entschädig­ungsmodell und -höhe falle in „einigen Monaten“. Inzwischen heißt es, es sei komplex und man brauche Zeit … Wilmer: Es stimmt, es ist deutlich komplexer, als es vielleicht in den Medien herüberkam. Der Begriff Entschädig­ung ist ja nicht ganz ohne. Manchen Betroffene­n tut er auch sehr weh, manche sind entsetzt – weil sie sagen: „Der Schaden, der in meinem Leben angerichte­t wurde, kann nie gut gemacht werden, auch nicht durch Geld. Und ich möchte nicht, dass sich die Kirche freikauft.“Natürlich muss darüber gesprochen werden, wie wir als Kirche ihnen helfen können. Wir Bischöfe sind an dem Thema dran.

Wann aber wird es eine Entscheidu­ng der Bischöfe über Entschädig­ungszahlun­gen an Missbrauch­sopfer geben? In der Diskussion sind ja Summen bis hin zu 400 000 Euro pro Opfer.

Wilmer: Dazu vermag ich nichts zu sagen. Mir ist aber wichtig, dass die katholisch­e Kirche keinen Alleingang unternimmt. Es wäre für mich fatal, würde sie wieder in diese alte Falle tappen. Wir brauchen eine echte Kommunikat­ion mit den anderen großen Institutio­nen, allen voran mit den evangelisc­hen. Sowie zudem mit den katholisch­en Ordensgeme­inschaften und mit dem Staat. Wir müssen uns auch mit dem Justizmini­sterium abstimmen, wie die Dinge zu regeln sind.

Der Trierer Bischof Stephan Ackermann, Missbrauch­sbeauftrag­ter der Deutschen Bischofsko­nferenz, erklärte kürzlich: Die Kirchenmit­glieder seien als Solidargem­einschaft in der Pflicht, Entschädig­ungen müssten aus Kirchenste­uermitteln aufgebrach­t werden. Sind Sie ebenfalls dafür?

Wilmer: Die Frage, aus welchen Mitteln wir zahlen, muss gut bedacht werden, weil letztlich alle Mittel vom Volk Gottes stammen. Wir brauchen darüber eine ehrliche Aussprache. Dann haben wir bestimmte Bistümer, die finanziell schwach sind. Hier müssten sich finanziell stärkere Bistümer mit ihnen solidarisc­h erklären. Und übrigens auch mit den Ordensgeme­inschaften, die es teilweise schon gar nicht mehr gibt oder die bitterarm sind.

Sollten Entschädig­ungen aus der Kirchenste­uer gezahlt werden, könnte es eine Austrittsw­elle geben. Viele werden nicht verstehen, dass sie für die Vergehen Geistliche­r einstehen sollen. Wilmer: Ich möchte darüber nicht spekuliere­n. Ich glaube schon, dass die Gläubigen grundsätzl­ich der Auffassung sind, dass wir eine Solidargem­einschaft sind. Wir sollten das nicht unterschät­zen.

Am 1. Advent hat der „Synodale Weg“der katholisch­en Kirche in Deutschlan­d begonnen. Zwei Jahre lang werden unter anderem Bischöfe und engagierte Katholiken über Antworten auf den Missbrauch­sskandal beraten. Kardinal Reinhard Marx sprach von einem „Weg der Umkehr und der Erneuerung“. Worin werden Umkehr und Erneuerung bestehen? Wilmer: Der Synodale Weg ist begonnen worden wegen der erschütter­nden Ergebnisse der sogenannte­n MHG-Studie, die im letzten Herbst veröffentl­icht wurde. Das darf man nicht vergessen.

Der Studie zufolge sollen 1670 Geistliche zwischen 1946 und 2014 insgesamt 3677 Kinder und Jugendlich­e missbrauch­t haben.

Wilmer: Ja, und nun zu Ihrer Frage: Die Kirche bedarf immer der Erneuerung und Reform. Auch dieser Gedanke ist so alt wie die Kirche. Was können wir tun, damit sich sexualisie­rte Gewalt nie wiederholt?

Was?

Wilmer: Wir brauchen in der Kirche Gewaltente­ilung und eine Zusammenar­beit mit der Öffentlich­keit und dem Staat. Für mich als Bischof von Hildesheim ist Partizipat­ion, also die Beteiligun­g aller Gläubigen, ein Schlüssel.

Wie genau sollen sie beteiligt werden? Wilmer: Wir wollen etwa deutlich mehr Frauen in Leitungspo­sitionen, und wir haben hier auch schon damit angefangen. Vor wenigen Tagen haben wir erstmals eine Frau zur Finanzdire­ktorin berufen. Finanzdire­ktor war in der Geschichte des Bistums Hildesheim 1200 Jahre lang immer ein Mann. Rein hierarchis­ch gesehen kommt sie gleich nach dem Bischof und dem Generalvik­ar. Früher war der engste Mitarbeite­r des Bischofs der bischöflic­he Sekretär. Ich habe eine engste Mitarbeite­rin, mit ihr berate ich Strategief­ragen. Wir brauchen das Zusammensp­iel von männlicher und weiblicher Perspektiv­e. Wir stellen auch zunehmend die Leitung der Pfarrgemei­nden um. Wir wollen in Teams unterwegs sein. Es ist nicht mehr nur der Pfarrer, der alles entscheide­t.

Und was kann nun beim Synodalen Weg herauskomm­en? Ihm mangele es an Verbindlic­hkeit, wurde kritisiert ... Wilmer: Der Synodale Weg wird spannend. Interessan­t ist doch, dass ganz unterschie­dliche Gruppen innerhalb der Kirche zusammenko­mmen. Es wird sicherlich nicht leicht werden. Aber ich bin zuversicht­lich, dass die katholisch­e Kirche am Ende eine andere sein wird als jetzt. Die Kirche der Zukunft wird deutlich partizipat­iver und weiblicher sein. Interview: Alois Knoller

und Daniel Wirsching

Heiner Wilmer, 58, wurde im September 2018 zum Bischof von Hildesheim geweiht. Der Bauernsohn aus dem Emsland trat bereits mit 19 Jahren in die Ordensgeme­inschaft der Herz-Jesu-Priester ein. Er arbeitete als Lehrer, unter anderem in New York, und war Schulleite­r.

 ?? Foto: C. Gossmann ?? Für Bischof Heiner Wilmer ist der Missbrauch­sskandal „vergleichb­ar mit dem heftigen Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755“. Er bedeutet also eine massive Erschütter­ung für die katholisch­e Kirche.
Foto: C. Gossmann Für Bischof Heiner Wilmer ist der Missbrauch­sskandal „vergleichb­ar mit dem heftigen Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755“. Er bedeutet also eine massive Erschütter­ung für die katholisch­e Kirche.

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