Mittelschwaebische Nachrichten
Ein Obdachloser hütet in Neu-Ulm die Krippe
Schicksal Dank Wolfgang kann die Petruskirche unter der Woche geöffnet bleiben. Er hat eine bewegte Zeit hinter sich
Neu-Ulm In der Neu-Ulmer Innenstadt ist Wolfgang schon bekannt: Der Obdachlose, der seinen Nachnamen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte, sitzt fast täglich an derselben Bushaltestelle, neben sich einen kleinen Karton, in den der ein oder andere Passant etwas Geld wirft. Derzeit aber sucht man den 67-Jährigen dort vergeblich – denn er hat eine ganz andere Aufgabe: Er gibt auf die Krippenfiguren in der Neu-Ulmer Petruskirche acht.
Wolfgang lebt im städtischen Obdachlosenheim. In die evangelischlutherische Kirchengemeinde ist er gut integriert und so trat die frühere Dekanin 2017 mit der Idee an ihn heran, ob er nicht ein Auge auf die
Krippe haben wolle. Vorher musste die Kirche unter der Woche immer geschlossen bleiben, unter Plexiglas wollte der Kirchenvorstand die Figuren aber auch nicht aufstellen. Von 9 bis 16 Uhr ist nun also Wolfgang der Hüter der Krippe, bis Maria Lichtmess am 2. Februar. Als Dankeschön bekommt der 67-Jährige täglich ein Mittagessen bezahlt. Wolfgang freut sich über die Aufgabe. „Es ist ja nicht nur, dass ich auf die Krippe aufpasse. Es ist auch eine Möglichkeit in mich zu gehen, abzuschalten und auszuspannen.“Und ab und an ergebe sich ein Gespräch mit Besuchern der Petruskirche.
Wolfgang hat eine bewegte Zeit hinter sich: Er wuchs in der DDR auf, machte eine Ausbildung in einer Spinnerei. „Ich wollte von zu Hause ausziehen und sagte: ,Es kommt der Tag, da hau ich ab.‘ Das hat meine Familie leider in den falschen Hals bekommen.“Sie zeigte ihn an, weil sie dachte, er wolle in den Westen flüchten – das sei damals aber gar nicht seine Absicht gewesen, sagt er. Auf einmal war Wolfgang ein politischer Gefangener.
Nach seiner Haft wollte er tatsächlich nach Westdeutschland – doch immer wieder wurden seine Anträge auf Übersiedlung abgelehnt. Mehrmals versuchte er zu fliehen, aber nie mit Erfolg. „Es hat mich immer jemand verraten.“Kontakt zu seiner Familie hatte er nach seinem ersten Gefängnisaufenthalt nie wieder. „Sie wollten nichts mehr mit mir zu tun haben.“Bis zur Wende verbrachte Wolfgang insgesamt elf Jahre in drei verschiedenen Gefängnissen.
Dann kam die Wende und die brachte für Wolfgang nicht nur Gutes mit sich: Die Spinnerei musste schließen, er verlor erst seine Arbeit, danach seine Wohnung. Lange Zeit lebte der 67-Jährige auf der Straße – unter anderem in Augsburg oder am Starnberger See, wo er durch Zufall den mittlerweile gestorbenen Schauspieler Heinz Rühmann kennenlernte. Durch seine Arbeit beim Zirkus Holiday im Jahr 1991 kam er sogar ins Fernsehen: in die Show „Meine Freunde, die Artisten“. Im Sommer 2017 verschlug es Wolfgang dann nach Neu-Ulm – und dort ist er mittlerweile „bekannt wie ein bunter Hund“, wie er selbst sagt.