Mittelschwaebische Nachrichten
Simon, 19, ganz normal
Downsyndrom Ein Bluttest, der in der Schwangerschaft Trisomie 21 bei einem Kind erkennt, soll bald von den Krankenkassen bezahlt werden. Kritiker fürchten, dass dann die Zahl der Abtreibungen steigt und es Menschen wie den jungen Mann aus dem Allgäu nicht mehr geben würde
Rieden „An Tagen wie diesen wünscht man sich Unendlichkeit.“Leise summt Simon Weiner die Melodie mit. Auf seinem Smartphone läuft ein Video eines Tote-HosenKonzerts, er schaut gebannt darauf. Der 19-Jährige wünscht sich nichts mehr, als im Juni auf ein Konzert der Band in die BigBox in Kempten zu gehen. Noch ein Video. In dem lässt sich Sänger Campino in die Zuschauermenge fallen und wird von ihr davongetragen. „Einmal wie Campino crowdsurfen, das will ich“, sagt Simon.
Seine Mutter Alexandra Weiner sitzt neben ihm am kleinen Wohnzimmertisch in ihrer Wohnung in Rieden bei Kaufbeuren. Sie weiß, dass dieser Wunsch ihres Sohnes genau das bleiben wird – ein Wunsch. Denn Simon hat Trisomie 21, besser bekannt als Downsyndrom. Allein schon das Konzert wäre eine Herausforderung für ihn, sagt sie. Langes Stehen strenge Simon an, Crowdsurfen komme da erst recht nicht in Frage.
Das wissen sie beide: Vieles im Leben von Simon geht nicht; vieles, das für andere normal ist. „Aber wir haben uns arrangiert“, sagt Alexandra Weiner und streicht Simon liebevoll übers hellbraune Haar. Irgendwann sei es, das Downsyndrom, für sie normal gewesen.
Es ist eine Botschaft, die noch immer – oder stärker noch – öffentlich werden soll: Menschen mit Trisomie 21 sind ganz normal. Ein Satz, der Alexandra Weiner nicht nur wegen des Welt-Downsyndrom-Tags am 21. März wichtig ist. Sondern auch wegen eines höchst umstrittenen pränatalen Bluttests. Mit dem kann erkannt werden, ob ein Kind das Downsyndrom hat. Gesetzliche Krankenkassen wollen von 2021 an die Kosten in „begründeten Einzelfällen“erstatten. Ein Dammbruch? Führt das zu mehr Abtreibungen, zu Selektion?
Dass ihr Sohn das Downsyndrom hat, erfuhr Alexandra Weiner erst am Tag seiner Geburt. Während ihrer Schwangerschaft hat sich die damals 31-Jährige keine Sorgen gemacht. „Ich war jung, es war das erste Kind. An so etwas wie Downsyndrom denkt man da nicht.“Nur einmal sagte ein Arzt, dass ihr Bauch für den achten Monat ein wenig klein sei. „Aber da ich klein bin und damals sehr zierlich war, meinte er, dann bekomme ich eben ein kleines Kind.“Der Schock nach der Geburt war für sie und ihren Lebensgefährten, von dem sie sich zehn Monate nach der Geburt trennte, groß – aber auch schnell vergessen.
Bis vor wenigen Jahren gab es nur zwei Arten, um eine Trisomie eindeutig festzustellen: Entweder indem Mutterkuchengewebe oder Fruchtwasser zu Beginn der Schwangerschaft entnommen und untersucht wurde. Eingriffe, die das Risiko einer Fehlgeburt bergen. 2012 kam dann die Möglichkeit hinzu, über das Blut der Mutter das kindliche Erbgut auf die Wahrscheinlichkeit für eine Trisomie 21 zu testen. Bisher musste dieser Test privat gezahlt werden, derzeit kostet er um die 130 Euro.
Vor einem halben Jahr beschloss der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) von Ärzten, gesetzlichen Kassen und Kliniken, dass der Bluttest eine Kassenleistung wird. Allerdings nur für Risikoschwangere, also Frauen ab 35 Jahren, oder wenn das ungeborene Kind Auffälligkeiten aufweist. So erklärt es Ulrich Gembruch, Direktor der Abteilung für Geburtshilfe und Pränatalmedizin am Universitätsklinikum Bonn und Experte der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. Mit steigendem Alter der Frauen steige das Risiko für eine Trisomie exponentiell an. Bis die Kassen den Test zahlen, dauert es aber noch. Der G-BA muss voraussichtlich bis Ende des Jahres klären, wie eine Infobroschüre aussehen soll. Und das Gesundheitsministerium muss diese billigen.
Dass es den Bluttest gibt und dass er von den Kassen bezahlt werden soll, findet Alexandra Weiner gut. Jede Frau sollte selber entscheiden dürfen, ob sie ein Kind mit Downsyndrom wolle oder nicht, findet sie – mit Blick auf die Auswirkungen auf ihr eigenes Leben. Bei Simon war schnell klar, dass er entwicklungsverzögert ist. Alexandra
Weiner holt eine Schachtel mit Fotos aus ihrem Schlafzimmer. Eines zeigt Simon, wie er an eine Decke gelehnt an seinem ersten Geburtstag vor einem Stapel Geschenke sitzt. „Er konnte noch nicht selbstständig sitzen. Deshalb die Decke als Stütze“, sagt sie. „Du warst so ein nettes Baby“, ergänzt sie, zu ihrem Sohn gewandt. „Das ist so peinlich“, erwidert der und lacht.
Laufen lernte Simon mit drei Jahren. Bis zur Volljährigkeit erhielt er finanzielle Unterstützung wie Essensgeld und regelmäßig Krankengymnastik sowie Sprachtherapie. Auch sonst braucht er noch Hilfe, zum Beispiel beim Zähneputzen. Nach der Geburt blieb Alexandra Weiner drei Jahre zu Hause und arbeitet seitdem halbtags bei einem Hersteller für Spielwürfel und -zubehör in Neugablonz.
Nimmt die Zahl der Abtreibungen von Menschen mit Downsyndrom durch den Bluttest in Zukunft also weiter zu, wie Kritiker befürchten? Schon heute liegen die Abtreibungsraten bei Frauen, die erfahren, dass ihr Kind Trisomie 21 hat, bei etwa 90 Prozent, sagt Mediziner Ulrich Gembruch.
Seine Kollegin Astrid PetersWeist, Oberärztin am Medizinischen Zentrum für Erwachsene mit Behinderung des kbo-Isar-AmperKlinikums München-Ost in Haar, glaubt das nicht. Zum einen sei der Bluttest nichts völlig Neues, zum anderen werde er wie die bisherigen Methoden nur bei Risikoschwangeren von den Kassen gezahlt, sagt sie. „Die Kinder, die heute mit Downsyndrom zur Welt kommen, sind fast alle von jungen Müttern, die nicht damit rechnen.“Außerdem sei die von den Kassen bezahlte Diagnostik bisher zwar risikoreicher gewesen, habe aber im Gegensatz zum Bluttest eine eindeutige Diagnose erbracht. Sich allein auf den Bluttest zu verlassen, davon rät die Ärztin ab. Vor einem Schwangerschaftsabbruch sollte zur Absicherung zusätzlich ein Ultraschall des Kindes gemacht werden, um eventuelle Auffälligkeiten zu erkennen. Erst danach sei es sinnvoll, über die möglichen weiteren invasiven Methoden zu entscheiden.
„Das typische Downsyndrom gibt es nicht“, erklärt Astrid PetersWeist. Es sei ein ganz buntes Bild möglich. Neben einer verzögerten körperlichen und geistigen Entwicklung in unterschiedlicher Ausprägung gebe es einige äußerliche Merkmale, die Menschen mit Trisomie 21 oftmals haben: Sie sind kleiner, haben kürzere Arme, ein rundliches Gesicht und schräg stehende Augen. Mit seinen 1,58 Metern, dem rundlichen Gesicht und den schräg stehenden Augen, die fast die ganze Zeit vor Freude und Lebenslust nur so sprühen, hat auch Simon einige dieser Merkmale.
„Ich habe schöne Augen und Haare und eine schöne Haut“, sagt er und krault Katze Muffin, die es sich auf seinem Schoß gemütlich gemacht hat. Auf die Frage nach seinen Hobbys antwortet er strahlend: Fußball spielen, Achterbahn fahren und Videos auf dem Handy schauen. Nur wenn er davon spricht, dass er im Kindergartenalter wegen seines Aussehens öfter von anderen Kindern gehänselt wurde und sie ihm Grimassen geschnitten haben, verschwindet das Lachen aus Simons Gesicht. „Das hat mich wütend gemacht.“Sauer wird er auch, wenn man ihn nicht ausreden lässt. Simon stottert. Ansonsten? Der 19-Jährige ist gesund. Er braucht nur Tabletten gegen eine Gräserallergie und für die Schilddrüse. „Gott sei Dank“, sagt Alexandra Weiner.
Bei Menschen mit Downsyndrom bestehe die Gefahr, dass Herzfehler, Kreislauferkrankungen, MagenDarm-Störungen und Demenz auftreten, die die Lebenserwartung senken können, erklärt Ärztin Astrid Peters-Weist. Ihr ältester Patient mit Trisomie 21 ist 65 Jahre alt. Im Vergleich zu heute geborenen Kindern, die eine Lebenserwartung von über 90 Jahren haben, sei das zwar geringer, aber deutlich höher als früher, als die Lebenserwartung bei 20 bis 30 Jahren gelegen habe.
Für Alexandra Weiner waren solche Dinge nicht so wichtig. Viel wichtiger war ihr, sich mit der Situation zurechtzufinden. Eine Bekannte riet ihr, Wolfgang Neumayer von der Lebenshilfe Ostallgäu in Kaufbeuren anzurufen. Der gelernte Sozialpädagoge beriet zu jener Zeit Angehörige, inzwischen ist er Vorsitzender der Ostallgäuer Organisation. Die Lebenshilfen in Deutschland unterstützen Menschen insbesondere mit geistiger Behinderung und deren Familien. Mit einem behinderten Kind würden gerade am Anfang viele Fragen aufploppen: Auf was muss ich mich einstellen? Wie verläuft unser Leben und das des Kindes? Welche Unterstützung gibt es? „Oft bricht die ganze Lebensplanung zusammen“, sagt Neumayer. Für Menschen mit Downsyndrom sei viel Normalität möglich. Dafür brauche es aber den Einsatz der Familie. Das sei kein Selbstläufer.
Vom Kindergarten an bis zur Berufsschule, die Simon voraussichtlich im September beenden wird, ging er auf die Ludwig-ReinhardSchule in Kaufbeuren, ein Förderzentrum für den Schwerpunkt geistige Entwicklung. Zweimal die Woche hat Simon nachmittags Unterricht, ansonsten geht er in die Tagesstätte der nahe gelegenen Lebenshilfe. Nach seinem Abschluss will er bei den Wertachtal-Werkstätten der Lebenshilfe Ostallgäu, die geistig, körperlich und psychisch behinderten Menschen einen Arbeitsplatz bieten, anfangen.
Das bedeutet eine große Umstellung für Simon. Ein geregelter Tagesablauf, Routine und Ordnung sind für den 19-Jährigen extrem
Der Test ist seit 2012 auf dem Markt erhältlich
Simons jüngere Schwester kam völlig gesund zur Welt
wichtig. Jedes zweite Wochenende besucht er seinen Vater in Neugablonz, er telefoniert regelmäßig mit ihm. Auch in seinem Zimmer, das er voller Stolz zeigt, hat alles seinen Platz. Die Harry-Potter-Bücher, -DVDs und -Hörbücher sind in Reih und Glied in Schränken verstaut, das Bett mit der Harry-Potter-Bettwäsche ist ordentlich gemacht. Wenn seine elfjährige Schwester Franziska etwas aus seinem Zimmer nimmt und nicht wieder so zurückstellt, wie es sich für ihn gehört, wird er nervös.
Franziska kam völlig gesund zur Welt. Obwohl Alexandra Weiner mit 38 Jahren schon Risikoschwangere war und die Krankenkasse somit eine vorgeburtliche Diagnostik gezahlt hätte, verzichtete sie darauf. Hatte sie keine Angst, dass ihr zweites Kind ebenfalls Trisomie 21 haben könnte? „Nein. So wie es kommt, kommt es, sage ich immer.“Auch wenn sie gewusst hätte, dass Simon oder sogar Franziska das Downsyndrom haben – abgetrieben hätte sie nicht. „Simon ist so ein Lieber, so offen und ehrlich. Er bringt mich zum Lachen.“
Alexandra Weiner sagt an ihrem kleinen Wohnzimmertisch, auf dem die Schachtel mit Fotos von Simon liegt: „Ich hätte nicht auf ihn verzichten wollen.“