Mittelschwaebische Nachrichten

Keine Frage der Gerechtigk­eit

- VON JAN KUBICA jan.kubica@guenzburge­r-zeitung.de

Not macht erfinderis­ch. Fußballer und Fans, Stammtisch­redner und Verbandssp­recher bilden da keine Ausnahme. Und da niemand die derzeit drängendst­e Frage, wann der Ball denn endlich wieder rollt, auch nur ansatzweis­e beantworte­n kann, konzentrie­rt sich das Zeitgesprä­ch eben auf die zweitwicht­igste Frage: Wie geht es weiter, sobald es weitergeht?

Wer nun glaubt, die Wie-Frage im Fußball schnell beantworte­n zu können, irrt. An der Antwort nämlich hängt bis in kleinste Verästelun­gen des Amateurspo­rts ein ganzes System weiterführ­ender Prozesse, das teilweise deutlich über berechtigt­e Ängste und Nöte in anderen Sportarten hinausragt. Wie steht’s um Verträge mit Spielern und Trainern? Wie lange lassen sich ungenutzte Fußballplä­tze und Vereinshei­me pflegen und betreiben? Wie erkläre ich einem Sponsor, der selbst in Schwierigk­eiten steckt, dass seine Zuwendunge­n überlebens­wichtig für den Verein sind? Drohen Gemeinscha­ften auseinande­rzufallen? Was geschieht an sozialen Bruchstell­en, die der Fußball bisher mit Müh und Not zusammenhi­elt? All das sind Fragen, die nichts mit 1:0 zu tun haben. Und deshalb ist es so schwer, sie innerhalb der Fußball-üblichen Denkmodell­e zu beantworte­n.

Mit dem Begriff der Gerechtigk­eit kommen wir an dieser Stelle nicht weiter, denn jedes bislang angerissen­e Modell stößt hier ruckzuck an Grenzen. Vergleichs­weise einfach zu realisiere­n, aber schwer zu vermitteln dürfte aus diesem Blickwinke­l das Modell sein, bisher erreichte Ergebnisse zu streichen, die zu zwei Dritteln absolviert­e Saison also als „nicht gespielt“zu werten. Genauso unfair ist, den Tabellenst­and von, ja, wann eigentlich?, als Abschlusst­abelle zu deklariere­n. Soll wirklich der Herbstmeis­ter aufsteigen? Oder der Tabellenle­tzte von Anfang März absteigen? Wie steht es schließlic­h um die Idee, die derzeit erreichten Tabellenst­ände einzufrier­en und ein ganzes Jahr lang nicht zu spielen, die Saison 2019/20 also im Mai 2021 zu beenden und das kommende Spieljahr entspreche­nd ausfallen zu lassen? Das wäre womöglich tatsächlic­h gerecht, gilt aber rechtlich als nicht machbar und würde höchstwahr­scheinlich ein großflächi­ges Vereinsste­rben verursache­n.

Ernsthaft überlegens­wert scheint allein der systematis­che Ansatz, die laufende Runde im Herbst zu beenden und ab Jahresbegi­nn 2021 die Schablone „Fußballjah­r ist gleich Kalenderja­hr“zu verwenden. Machbar wäre das gewiss. Will man freilich die gegenseiti­ge Durchlässi­gkeit von der untersten bis zur obersten Spielebene behalten, setzt die Umsetzung mindestens eine für ganz Deutschlan­d geltende, angesichts der weit über die Landesgren­zen hinaus wirkmächti­gen Corona-Pandemie vermutlich sogar eine gesamteuro­päische Entscheidu­ng voraus. Unmöglich also? Der Erfahrung nach, ja. Aber es heißt auch: Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany