Mittelschwaebische Nachrichten

„Der Mensch kann viel aushalten“

Interview Die frühere evangelisc­he Landesbisc­höfin Margot Käßmann über ein Osterfest ohne Gottesdien­ste, die Corona-Krise als Chance und worauf sie sich nach Ende der Ausgangsbe­schränkung­en am meisten freut

- Interview: Margit Hufnagel

Frau Käßmann, wissen Sie schon, wie Sie Ostern feiern werden?

Käßmann: Ein Osterfest, ohne dass ich zur Kirche gehe – das hat es für mich noch nie im Leben gegeben. Für mich gehört der Gottesdien­st zu Ostern dazu. Ich bin deshalb sehr dankbar, dass es Fernsehgot­tesdienste gibt. Ich werde mich also der Fernsehgot­tesdienst-Gemeinde anschließe­n. Aber es ist natürlich eine ganz andere Erfahrung, ob ich mit anderen Menschen gemeinsam singe „Christ ist erstanden“– oder ob ich das virtuell erlebe. An Ostersonnt­ag werden in ganz Deutschlan­d um 12 Uhr die Glocken läuten, und ich hoffe, dass dieses Läuten auch jene Menschen erreicht, die gerade verzagt und einsam sind.

Wie können Menschen mit dieser Einsamkeit umgehen, die ja an Festtagen wie Ostern noch viel schmerzhaf­ter ist? Käßmann: Ich erlebe, dass ganz viele den Älteren, die nicht im Internet unterwegs sind, Briefe und Karten schreiben. Auch ich werde zu Ostern Grüße und Büchlein verschicke­n. Post tröstet und tut gut. Und dann gibt es ja noch das gute alte Telefon. Manche verschicke­n ja sogar Grüße über das Radio. Wir können da kreativ sein, damit niemand sich an Ostern einsam fühlen muss. Ostern ist das Fest des Lebens, das uns sagt: Das Leben ist stärker als der Tod. Und die Liebe ist auch stärker.

Es stellt sich die Frage: Geld oder Leben? Wer Menschen schützt, schadet der Wirtschaft –und umgekehrt. Was macht so eine Frage mit uns? Käßmann: Ich denke, die Frage ist zu kurz gegriffen. Wir können das eine nicht gegen das andere aufwiegen, die Politik muss da genau hinsehen. Es ist sehr klar, dass in so einer Situation auch Menschen sich das Leben nehmen, dass in Familien Gewalt herrscht. Deshalb habe ich die Zuversicht, dass die Politik die richtige Balance findet. Sie muss einerseits beschützen und das Gesundheit­ssystem so aufrechter­halten, dass es nicht überforder­t ist. Zum anderen müssen Beschränku­ngen dort gelockert werden, wo das möglich ist. Ärzte sagen mir, dass die Jungen sich mit diesem Virus offensicht­lich leichter tun. Es sollten also Schritt für Schritt die Schulen und Kindertage­sstätten wieder geöffnet werden. Es werden schwierige Entscheidu­ngen sein, die Politiker verantwort­en müssen. Deshalb bin ich froh, in einem Land zu leben, in dem ich der Politik genau das zutraue.

In Italien zwingt der Mangel an Ausrüstung Ärzte dazu zu entscheide­n, wer leben darf und wer sterben muss… Käßmann: Für Ärzte gibt es immer wieder schwierige Situatione­n, aber sie sagen selbst, sie sind darauf vorbereite­t. Wir können den Ärzten also vertrauen. Sie werden um jedes Leben kämpfen. Hinzu kommt: Deutschlan­d ist wahrschein­lich deutlich besser gerüstet als jedes andere Land. Menschen müssen nicht in Panik verfallen, weil sie fürchten, sie werden „aussortier­t“. Dass es Entscheidu­ngen geben kann, bei denen der Mensch schuldig wird, ist nie auszuschli­eßen im Leben.

Muss sich vielleicht auch deshalb die Gesellscha­ft viel stärker mit dieser Frage beschäftig­en?

Käßmann: In solchen Situatione­n entscheide­n Ärzte nie alleine, da gilt immer das Sechs-Augen-Prinzip. Aber es ist so: Die Entscheidu­ng müssen die Ärzte treffen, das kann ihnen niemand abnehmen. Worüber die Gesellscha­ft diskutiere­n sollte, ist die Frage: Wie will ich eigentlich sterben? Habe ich eine Patientenv­erfügung? Ich erlebe immer wieder, dass Menschen das abwiegeln, nicht darüber sprechen möchten. Vielleicht rüttelt diese Krise so manchen auf.

Zeigt uns diese Krise also auch, dass wir uns wieder stärker mit dem Tod auseinande­rsetzen müssen? Käßmann: Ich halte es für wichtig, sich mit der Endlichkei­t des Lebens zu beschäftig­en – das muss ja nicht jeden Tag sein. Viele Menschen versuchen, den Tod zu verdrängen. Ich persönlich finde Gespräche über Leben und Sterben immer als sehr bereichern­d. Manche sagen, wir hätten uns zu einer Spaß-Gesellscha­ft entwickelt – alles muss immer Spaß machen. Sich einmal mit den Grundfrage­n des Lebens zu beschäftig­en, tut einer Gesellscha­ft durchaus gut. Hinzu kommt: Was wir tabuisiere­n, macht uns viel mehr Angst als das, was wir ausspreche­n. Stattdesse­n haben wir viele Rituale verloren, etwa die Aufbahrung eines Toten. Doch solche Rituale geben Halt. Als Seelsorger­in habe ich die Erfahrung gemacht, dass die alten Worte „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und dein Stab trösten mich“auch heute noch trösten. Schon Generation­en vor uns haben Schweres erlebt und Kraft und Halt im christlich­en Glauben gefunden. Für mich sind diese Worte auch deshalb wichtig, weil sie größer sind als das, was ich selbst an Betroffenh­eit ausdrücken kann.

Haben Sie Angst, dass diese CoronaKris­e unsere Gesellscha­ft spalten kann, dass der Graben zwischen Jüngeren und Älteren tiefer wird? Käßmann: Das sehe ich nicht – im Gegenteil: Ich erlebe eine ganz große Solidaritä­t auf vielen Ebenen. In Niedersach­sen bin ich Mitherausg­eberin der Straßenzei­tung Asphalt; die Obdachlose­n dürfen sie gerade nicht verkaufen. Die Reaktion ist eine große Spendenber­eitschaft vieler Menschen. Kleine regionale Läden erleben eine ganz neue Wertschätz­ung, Klassenleh­rerinnen rufen ihre Schüler einzeln an, um zu helfen. In dieser Krise wächst also auch viel Gutes. Aber eines muss ich auch mal sagen: Ich werde bald 62, zähle also auch zu den „Alten“. Und wenn es für die Gesellscha­ft hilfreich ist, dass ich zu Hause bleibe und dafür die Kinder wieder rauskönnen, dann wäre das für mich kein Opfer, sondern Ausdruck der Solidaritä­t.

Machen Sie sich keine Sorgen, dass die Schwächste­n der Gesellscha­ft noch weiter an den Rand gedrängt werden? Käßmann: Doch, um die mache ich mir Sorgen. Um Menschen in Altenheime­n, die jetzt ohne Besuch bleiben. Oder: Wer einen 450-Euro-Job hat, kommt nicht unter einen Rettungssc­hirm. Wohnungslo­se, Alleinerzi­ehende, alle, die sich derzeit nicht über die „Tafeln“ernähren können, alle, die Angst haben – um sie mache ich mir wirklich Sorgen. Mit diesen Menschen müssen wir Solidaritä­t zeigen. Aber genau das erlebe ich auch in den Kirchengem­einden.

Und wenn die Stimmung irgendwann kippt?

Käßmann: Der Mensch kann viel aushalten, das weiß ich aus den Erzählunge­n meiner Eltern und Großeltern. In Kriegszeit­en wurden auf einmal Kräfte wach, die sie selbst gar nicht vermutet hatten. Anderersei­ts müssen wir aufpassen, dass die Menschen nicht völlig ihre innere Haltung verlieren, weil sie nicht mehr rausdürfen. Zwischen Angst und Sorglosigk­eit eine Haltung der Besonnenhe­it zu finden, das wird in den kommenden Tagen und Wochen das Wichtigste sein.

Sie haben das Wort „Krieg“erwähnt. Müssen wir uns stärker bewusst machen, dass es uns trotz aller Beschränku­ngen noch immer sehr gut geht? Käßmann: Ich bin sehr dankbar, in diesem Land leben zu dürfen. Bei aller Kritik, die es immer wieder gab in den vergangene­n Wochen, wächst vielleicht auch die Dankbarkei­t – das wünsche ich mir. Wir haben ein Land der Freiheit, eine Politik, die vernunftge­steuert handelt. Wir sind ein Land, in dem es wirtschaft­liche Solidaritä­t gibt. Wird jemand in den USA arbeitslos, gibt es kein Kurzarbeit­ergeld. Auch in unseren Partnerkir­chen wie in Ruanda ist die Angst riesig, weil es dort kaum medizinisc­he Versorgung gibt.

Käßmann: Ich bin ein hoffnungsv­oller Mensch. Deshalb bin ich überzeugt, dass wir ganz neu auf Berufsgrup­pen schauen werden, die noch vor kurzem nicht die notwendige Wertschätz­ung erfahren haben. Es sind ja vor allem schlecht bezahlte Frauenberu­fe, die jetzt systemrele­vant sind: die Kassiereri­n im Lebensmitt­elladen, die Altenpfleg­erin, aber auch Post- und Paketboten, die Müllabfuhr. Diese Gruppen müssen auch auf lange Sicht eine höhere Wertschätz­ung erfahren – und damit auch eine bessere Bezahlung. Eine weitere Hoffnung, die ich habe, ist, dass wir sehen, dass ein Gesundheit­ssystem nicht alleine unter ökonomisch­en Gesichtspu­nkten betrieben werden kann. Krankenhäu­ser standen unter einem wahnsinnig­en Druck. Doch dabei geht es wirklich um Daseinsfür­sorge.

Ist diese Krise also auch eine Chance? Käßmann: Das sehe ich wirklich so! Wir durchlaufe­n gerade eine sehr, sehr schwierige Phase. Aber wenn wir da durch sind, werden wir einen anderen Blick auf dieses Land werfen. Dankbarkei­t, Wertschätz­ung, Nächstenli­ebe – das werden wichtige Begriffe sein, die eine viel größere Bedeutung bekommen werden. Unser Grundgefüh­l, dass immer alles da ist, dass wir unser Leben planen können, ist erschütter­t. Die Corona-Krise ist eine Ohnmachtse­rfahrung. Das ist für viele schwer zu begreifen – vieles wird uns erst im Nachhinein klar werden.

Worauf freuen Sie sich besonders, wenn all die Einschränk­ungen überstande­n sind?

Käßmann: Ich freue mich am meisten auf meine Enkelkinde­r. Es tut mir richtig weh, sie nicht in den Arm nehmen zu können. Die Menschen sind es doch, die einem fehlen. Ich denke, das geht vielen anderen auch so. Neulich hat mir jemand gesagt: Ich hätte nie gedacht, dass ich meine Familie mal vermisse.

 ??  ?? Die Theologin Margot Käßmann sieht in der aktuellen Krise auch eine Chance für die Gesellscha­ft. Begriffe wie Wertschöpf­ung und Dankbarkei­t könnten mit neuem Leben gefüllt werden. Foto Patrick Seeger, dpa
Wird sich diese Dankbarkei­t auch ökonomisch widerspieg­eln? Immerhin sind plötzlich jene Berufe systemrele­vant, die uns am wenigsten wert sind: Krankensch­western, Verkäuferi­nnen …
Die Theologin Margot Käßmann sieht in der aktuellen Krise auch eine Chance für die Gesellscha­ft. Begriffe wie Wertschöpf­ung und Dankbarkei­t könnten mit neuem Leben gefüllt werden. Foto Patrick Seeger, dpa Wird sich diese Dankbarkei­t auch ökonomisch widerspieg­eln? Immerhin sind plötzlich jene Berufe systemrele­vant, die uns am wenigsten wert sind: Krankensch­western, Verkäuferi­nnen …

Newspapers in German

Newspapers from Germany