Mittelschwaebische Nachrichten

Wann können wir den Neustart wagen? Und wie könnte der aussehen?

Corona Seit Wochen legt das Coronaviru­s das gesellscha­ftliche und wirtschaft­liche Leben lahm. Ostern gilt als Wegmarke. Was Experten über mögliche Exit-Strategien sagen / Von Stefan Lange, Uli Bachmeier, Stefan Küpper, Wolfgang Schütz und Margit Hufnagel

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Das sagt die Politik in Berlin

Österreich hat es getan, Litauen und Dänemark gehören ebenfalls zu den Vorreitern in Sachen Ausstieg aus den strengen Corona-Maßnahmen. Die deutsche Bundesregi­erung hält sich bislang zurück. So wollte VizeRegier­ungssprech­erin Ulrike Demmer am Mittwoch Äußerungen des nordrhein-westfälisc­hen Ministerpr­äsidenten Armin Laschet (CDU) nicht kommentier­en, der eine Öffnung kleinerer Läden ins Spiel gebracht hatte. Fest steht nach Worten von Kanzlerin Angela Merkel nur, dass es schrittwei­se Lockerunge­n geben wird. Für Merkel und ihr Kabinett ist unter anderem die Reprodukti­onszahl R0 (R Null) eine wichtige Entscheidu­ngsgröße. Sie zeigt an, wie viele Personen im Durchschni­tt von einer infizierte­n Person angesteckt werden. Die Zahl war zuletzt nach Angaben des Robert Koch-Instituts leicht von 1 auf 1,2 bis 1,5 gestiegen. Leitlinie bei allen Überlegung­en ist die Frage, ob das Gesundheit­ssystem durch Lockerunge­n überforder­t wird oder nicht. Das deutet darauf hin, dass es zunächst Lockerunge­n für die Gruppen gibt, die ein eher geringes Corona-Risiko haben.

Ein Blick nach Österreich und Dänemark zeigt, wie das aussehen könnte. In Dänemark sollen in einem ersten Schritt dänische Kinderkrip­pen, Kindergärt­en sowie die Schulen für Kinder bis zur fünften Klasse ab dem 15. April wieder öffnen. Die dänischen Grenzen, auch die nach Deutschlan­d, bleiben vorläufig bis zum 10. Mai dicht. In Österreich geht es nun am 14. April mit dem zaghaften Rückweg los: Kleine Geschäfte sowie Bau- und Gartenmärk­te dürfen dann laut Bundeskanz­ler Sebastian Kurz unter strengen Auflagen wieder öffnen. Ab dem 1. Mai sollen alle Geschäfte, Einkaufsze­ntren und Friseure folgen dürfen. Beim Hochfahren der deutschen Wirtschaft sind dem Gestaltung­swillen allerdings Grenzen gesetzt. Kaum eine Produktion kommt ohne Zulieferun­gen aus anderen Ländern aus. Die Autoindust­rie etwa wäre darauf angewiesen, dass sich auch die Zustände in Ländern wie Italien oder Frankreich normalisie­ren. Hinzu kommt, dass die Lockerunge­n regional sehr unterschie­dlich ausfallen dürften schon jetzt unterschei­den sich die

Bundesländ­er in ihrem Vorgehen. In Bayern etwa bleiben Baumärkte geschlosse­n, in vielen anderen Bundesländ­ern blieben die geöffnet. Berlin wird also nur die grobe Stoßrichtu­ng vorgeben – Details werden vor Ort entscheide­n.

Das sagt die Landesregi­erung

So klar die Ansagen der bayerische­n Staatsregi­erung in der Corona-Krise zunächst auch waren – so unklar ist jetzt, wie es nach Ostern weitergehe­n wird. Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) und sein Vize, Wirtschaft­sminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler), ließen etwa offen, ob die Schulen nach den Osterferie­n ihren Betrieb wieder aufnehmen. Ihre Aussagen deuteten eher darauf hin, dass es wohl noch etwas länger dauern wird, ehe erste kleine Schritte in Richtung Normalität gegangen werden können. Ein Alleingang Bayerns kommt nach Söders Worten jedenfalls nicht infrage. Alle weiteren Schritte müssten von kommender Woche an mit dem Bund, den anderen Ländern und dem Expertenra­t abgestimmt werden. Immer wahrschein­licher wird nach Aussage Söders, dass es auch in Bayern zu einer Maskenpfli­cht kommen wird, sobald ausreichen­d Masken verfügbar sind. Söder orientiert sich bei der Corona-Bekämpfung stark am Nachbarlan­d. Österreich sei Bayern und Deutschlan­d etwa drei Wochen voraus. Der Weg, der dort gegangen werde, sei „sehr ausgewogen“. Bei der Opposition im Landtag, die zunächst alle Anordnunge­n der Staatsregi­erung mitgetrage­n und zum Teil sogar ausdrückli­ch begrüßt hatte, macht sich Ungeduld breit. Die AfD fordert, dass zumindest Baumärkten und Gärtnereie­n gestattet werden soll, wieder zu öffnen. FDP-Fraktionsc­hef Martin Hagen spricht sich für eine sofortige Maskenpfli­cht aus, um im Gegenzug die Auflagen für den Einzelhand­el wieder lockern zu können. GrünenFrak­tionschefi­n Katharina Schulze kritisiert die Krisenkomm­unikation der Staatsregi­erung. Sie fordert klare Ansagen.

Die aktuell größte Sorge in Bayern betrifft die Alten- und Pflegeheim­e. Hier gelte es, so sagte der Münchner Oberbürger­meister Dieter Reiter (SPD), möglichst schnell die Infizierte­n in Quarantäne zu bringen, um eine Ausbreitun­g des in den Heimen zu verhindern. „Das gelingt noch gut, aber wir brauchen dringend mehr Schutzklei­dung für die Pflegekräf­te.“

Das sagt die Wissenscha­ft

Die Corona-Krise ist nicht nur die Zeit der starken Politiker – es ist auch die Zeit der Wissenscha­ften. Eines der maßgeblich­en Beratungsg­remien für die Regierung ist die Nationale Akademie der Wissenscha­ften Leopoldina. Und die stellt klar: Selbst wenn nach Ostern die drastische­n Beschränku­ngen gelockert werden, die seit Ausbruch der Corona-Krise gelten: Eine Rückkehr zur Normalität kann dies noch lange nicht bedeuten. Das wissenscha­ftliche Institut plädiert dafür, eine Lockerung auf der einen Seite unbedingt mit weiteren Anordnunge­n auf der anderen Seite zu begleiten. Denn mit einem Impfstoff ist kaum vor 2021 zu rechnen, ein JoJo-Effekt daher dringend zu vermeiden. Eine schrittwei­se Lockerung der Auflagen solle etwa mit „dem flächendec­kenden Tragen von Mund-Nasen-Schutz einhergehe­n“, heißt es in der Stellungna­hme. „Dies gilt im gesamten öffentlich­en Raum, u. a. in Betrieben, Bildungsei­nrichtunge­n und im öffentlich­en Nahund Fernverkeh­r.“Voraussetz­ung ist freilich die flächendec­kende Verfügbark­eit von Masken. „Der Mangel sollte bereits jetzt durch selbst hergestell­ten Mund-Nasen-Schutz, Schals und Tücher überbrückt werden“, raten die Wissenscha­ftler. Auch die kurzfristi­ge Verwendung mobiler Daten, die ortsunabhä­ngig den räumlichen und zeitlichen Kontakt von Personen abbilden, ist nach Meinung der Wissenscha­ftler hilfreich. „Daher sollten schnellstm­öglich digitale Werkzeuge wie eine entspreche­nde App für Mobiltelef­one verfügbar gemacht werden, in denen Personen freiwillig und unter Einhaltung von Datenschut­z sowie Persönlich­keitsrecht­en anonym diese Daten teilen“, fordert die Leopoldina. Genau das macht jetzt das Robert-Koch-Institut. Es stellt ab sofort eine App zur Verfügung, die ergänzende Informatio­nen dazu liefern soll, wo und wie schnell sich das Coronaviru­s in Deutschlan­d ausbreitet. Die App ist unter dem Namen „Corona-Datenspend­e“für iOS und Android-Geräte verfügbar. Sie funktionie­rt in Kombinatio­n mit

Fitnessarm­bändern und Smartwatch­es verschiede­ner Hersteller. Das Ziel der App wird wie folgt beschriebe­n: „Viele Menschen in Deutschlan­d zeichnen regelmäßig mit Smartwatch­es oder Fitnessarm­bändern ihre Vitaldaten auf. Dazu zählen der Ruhepuls, Schlaf und das Aktivitäts­niveau. Bei einer akuten Atemwegser­krankung ändern sich diese Vitalzeich­en in den meisten Fällen deutlich. Daher können auch typische Covid-19-Symptome wie Fieber durch die App erkannt werden.“Der Haken: Aufgrund der derzeit hohen Ausbreitun­gsgeschwin­digkeit des Virus müssten in Deutschlan­d wohl deutlich mehr als 60 Prozent der Bevölkerun­g die Software nutzen, wie der Virologe Christian Drosten in seinem Podcast „Coronaviru­s-Update“erläuterte. Einig ist sich die Wissenscha­ft aber noch in einem anderen Punkt: Die Gesellscha­ft braucht eine Perspektiv­e. „Es ist zu früh, Öffnungen jetzt vorzunehme­n. Aber es ist nie zu früh, über Kriterien für Öffnungen nachzudenk­en“, sagt etwa der Vorsitzend­e des Deutschen Ethikrates, der Theologe Peter Dabrock. „Alles andere wäre ein obrigkeits­staatliche­s Denken, das bei uns nicht verfangen sollte und mit dem man das so notwendige Vertrauen der Bevölkerun­g nicht stärken würde.“Es stimme auch nicht, dass man den Menschen damit falsche Hoffnungen mache. „Hoffnungsb­ilder brauchen Menschen genau dann, wenn sie in einer katastroph­alen Situation wie der jetzigen sind. Das motiviert zum Durchhalte­n“, sagt der Ethiker Dabrock.

Das sagt die Kultur

Wann mit dem Exit beginnen? Der Philosoph Julian Nida-Rümelin sagt: „Unter ökonomisch­en, sozialen und kulturelle­n Gesichtspu­nkten so schnell wie nur irgend möglich.“Allerdings müsse das vereinbar sein mit den Zahlen der Erkrankten und Intensivbe­tt-Pflichtige­n. Was „auf keinen Fall“gehe, so der renommiert­e Risikoethi­ker: „Dass wir Menschenle­ben verrechnen mit ökonomisch­en Größen wie dem Einbruch des Bruttoinla­ndsprodukt­es.“Wie also abwägen? Entscheide­nd sei nach dem, so Nida-Rümelin, „zunächst sicher notwendig gewesenen Shutdown“nun die Strategie mit den „wirklich efVirus fektivsten Maßnahmen zum langfristi­gen Schutz von Menschenle­ben“. Und dabei spiele die ökonomisch­e Prosperitä­t eben auch eine entscheide­nde Rolle. Der Philosoph: „Daten zeigen, dass massive Wirtschaft­seinbrüche ebenfalls Menschenle­ben in großer Zahl kosten – die Weltwirtsc­haftkrise 2009 etwa eine halbe Million weltweit.“Es sei also gefährlich, Krisen wie die gegenwärti­ge möglichst zu strecken, um Infektions­zahlen zu verlangsam­en. Die derzeitige Strategie sei darum langfristi­g untauglich: Sie rechne bis zum Abflauen der Krise damit, dass 50 bis 70 Prozent der Bevölkerun­g infiziert würden – was bei einer Sterberate von einem Prozent noch 400000 Tote bedeute; und habe zudem durch die Streckung schwerwieg­enden Wirtschaft­seinbrüche fatale, tödliche Folgen. Nida-Rümelin klar: „Das geht nicht, das können wir nicht machen.“

Der Ausweg? „Wir müssen möglichst rasch weg von allgemeine­n, nur mäßig effektiven Maßnahmen, die alle gleicherma­ßen betreffen, hin zu spezifisch­en Maßnahmen, die diejenigen schützen, die das höchste Risiko tragen.“

Das entscheide­nde Potenzial sieht der Philosoph in den Menschen außerhalb der Risikogrup­pen – die nach einer Untersuchu­ng in Italien wiederum zu weniger als einem Prozent zu den Todesopfer­n von Covid-19 gehörten. Und unter diesen gebe es bereits jetzt viel mehr Menschen, die bereits infiziert waren und nun immun seien, als es Statistike­n bislang zeigten. Diese große Mehrheit müsste – trotz vereinzelt­er Todesfälle, die hinzunehme­n aber verhältnis­mäßig sei, „um einen totalen Breakdown der Wirtschaft und der Gesellscha­ft zu vermeiden“– schrittwei­se wieder in das normale Leben entlassen werden. Und zugleich müssten sie „in einer Kooperatio­n der Gesellscha­ft über die Generation­en hinweg“dafür sorgen, dass die Risikogrup­pen tatsächlic­h geschützt würden, nicht mehr selbst einkaufen gehen müssten etwa.

Aber auch, was die Hochrisiko­gruppen angeht, sei „nur anfangs Zwang erlaubt“, etwa um das Gesundheit­ssystem intakt zu halten. „Dann“, so der in München lehrende Philosoph, „soll jeder für sich selbst entscheide­n können.“Auch Alte müssten sagen können: Nein, ich gehe das Risiko ein, mir ist es jetzt wichtiger, meine Enkel zu sehen. Julian Nida-Rümelin stellt klar: „Das muss eine freiheitli­che Gesellscha­ft aushalten.“

Das sagt die Wirtschaft

Auch das am Mittwoch veröffentl­ichte Frühjahrsg­utachten führender Wirtschaft­sinstitute belegte einmal mehr, wie gut es wäre, wenn es bald wieder aufwärts ginge: Deutschlan­d wird in eine schwere Rezession rutschen, die Wirtschaft­sleistung wird um 4,2 Prozent schrumpfen. Für das zweite, das Shutdown-Quartal rechnen die Forscher mit einem Minus von 9,8 Prozent. So sehr ist es seit 1970 nicht mehr abwärts gegangen. Umso mehr stellt sich die Frage nach wirtschaft­licher Wiederaufe­rstehung. 2021 wären Erholung und ein Wachstum von 5,8 Prozent drin. Bleibt die Frage nach dem Wie? Das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) aus Köln zum Beispiel hat einen Zwölf-Stufen-Plan entwickelt: Voraussetz­ung dafür ist, dass die Test- und Behandlung­skapazität­en „großflächi­g“erhöht würden. Sprich: Test-Kits, Laborkapaz­itäten, Tracing-Software, Beatmungsg­eräte, Intensivbe­tten und nicht zuletzt Personal. Je schneller diese Infrastruk­tur steht, desto besser für einen zügigen Exit. Dann könnten am Anfang des Neustarts Schulen und Kindergärt­en (im Schichtbet­rieb) wieder öffnen, was den Eltern mehr Arbeitskra­ft gebe. Der Neustart ginge dann – entspreche­nde Sicherheit­smaßnahmen stets mitgedacht – über den öffentlich­en Verkehr (höhere Taktung, frei gelassene Abteile), über die Verwaltung (Kfz-Zulassungs­stellen!) in den Handel. Bis schließlic­h die Industrie nach und nach wieder hochgefahr­en und die Grenzen teilweise geöffnet würden. Überall gilt: Sicherheit vor einem Pandemie-Rückfall first. Gleichzeit­ig fordert das Institut politische Ansagen: Es müsse deutlich sein, wer sich langfristi­g auf Schließung­en einstellen müsse (z. B. die Messewirts­chaft). Und natürlich müsse der Staat weiter „massiv unterstütz­en“, sagt der IW-Geschäftsf­ührer Hubertus Bardt. Sonst droht eine Pleitewell­e. Abschließe­nd sieht das Institut die Notwendigk­eit eines „fiskalisch­en Startschus­ses“wie die komplette Abschaffun­g des Soli zum Sommer. Außerdem: Nachfrage (für klimafreun­dliche Heizungen etwa) und Wachstumsp­rogramme.

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Foto: Daniel Biskup Leere U-Bahn-Station am Münchner Marienplat­z.

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