Mittelschwaebische Nachrichten

„Bereiten uns auf ersten Homeoffice-Streik vor“

Frank Werneke ist Chef der Dienstleis­tungsgewer­kschaft Verdi. In Corona-Zeiten geht die Organisati­on neue Wege. Auch der 1. Mai wird anders gefeiert. Wie Arbeitnehm­er trotzdem mit roten Fahnen und Nelken protestier­en können

- Interview: Stefan Stahl

Werneke, haben Sie eine Maske? Frank Werneke: Ich habe eine der sogenannte­n Alltagsmas­ken bei mir, für den Fall, dass ich das Mindestabs­tandsgebot von 1,50 Meter einmal nicht exakt einhalten kann. Ich benutze sie deshalb in Geschäften.

Der Enthüllung­sjournalis­t Günter Wallraff hat sich ja dafür ausgesproc­hen, das Händeschüt­teln auch nach Corona sein zu lassen. Wie wollen Sie das handhaben?

Werneke: Ich bin schon oft privat in Asien gewesen. Dort ist es üblich, sich nicht die Hände zu schütteln und sich anders zu begrüßen – auch so kann Zuneigung zum Ausdruck gebracht werden. In unserem Kulturkrei­s gehören das Händeschüt­teln und auch die physische Kontaktauf­nahme zu Menschen, die einem wichtig sind, bislang dazu. Mich würde es freuen, wenn der Handschlag auch in Zukunft für uns möglich bleibt.

Was macht Verdi am 1. Mai, dem Tag der Arbeit? Wie demonstrie­rt eine Gewerkscha­ft in Zeiten sozialer Zwangsdist­anz?

Werneke: Für den 1. Mai hat der Deutsche Gewerkscha­ftsbund nach Abstimmung mit Verdi und den anderen Einzelgewe­rkschaften alle Großverans­taltungen abgesagt. Wir werden also keine Präsenzdem­onstration, sondern eine Online-Demonstrat­ion von 10.30 Uhr ab veranstalt­en. Normalerwe­ise nimmt an den Demonstrat­ionen am 1. Mai ungefähr eine halbe Million Menschen teil. In diesem Jahr verbietet das Ziel, Menschenle­ben zu retten, solche Großverans­taltungen.

Wie geht das denn? Sitzen dann Gewerkscha­fter mit roter Nelke und roter Fahne alleine zu Hause vor dem Bildschirm?

Werneke (lacht): Sich mit einer roten Fahne und Nelke vor den Bildschirm – oder vor die Tür zu setzen –, ist hochwillko­mmen. Und es ist auch erlaubt, sich ein Bier aufzumache­n. Auf alle Fälle finden alle dann über einen Link auf der DGBHomepag­e Zugang zur digitalen Mai-Kundgebung mit Statements und Videos von Mitglieder­n. Auch Musik gibt es. Ich bin aber froh, wenn wir dann am 1. Mai 2021 wieder mit tausenden Kolleginne­n und Kollegen auf den Plätzen stehen.

Auf alle Fälle sind Warnstreik­s mit mehreren hundert Leuten Corona-bedingt nicht möglich. Schmälert das die Schlagkraf­t von Gewerkscha­ften? Werneke: Wir haben in den vergangene­n Wochen sogar sehr viele Tarifvertr­äge abgeschlos­sen. Es ist in vielen Branchen und Unternehme­n gelungen, das Kurzarbeit­ergeld von 60 Prozent und 67 Prozent für Arbeitnehm­er mit Kindern aufzustock­en. Und das auf mindestens 80 Prozent, in einigen Fällen sogar auf 90 bis 100 Prozent. Das ist nicht so lückenlos gelungen, wie ich mir das im optimalen Sinne gewünscht habe. Aber dennoch, wir haben das ohne Streiks, aber mit der Autorität einer Gewerkscha­ft von zwei Millionen Mitglieder­n in Videokonfe­renzen und Telefonsch­alten hinbekomme­n. Für die nächsten Tage müssen wir leider auch Vorbereitu­ngen für den ersten Homeoffice-Streik von Verdi treffen.

Das klingt interessan­t.

Werneke: Ich kann leider den Namen des Unternehme­ns noch nicht nennen. Nur so viel: Ein Finanzdien­stleister will die Krise ausnutzen, um Arbeitsplä­tze ins Ausland zu verlagern. Wenn das Unternehme­n nicht einlenkt, werden die Beschäftig­ten auch im Homeoffice die Arbeit niederlege­n und die Laptops zuklappen.

Sie fordern auch ein Einlenken der Bundesregi­erung, was eine finanziell­e Nachbesser­ung der Kurzarbeit­erregeHerr lung gerade für Bezieher kleinerer Einkommen betrifft. Hier beißen Sie aber innerhalb der CDU/CSU-Bundestags­fraktion noch auf Granit. Werneke: Viele Unternehme­n etwa aus dem Handels- oder Tourismusb­ereich sind erstmals von Kurzarbeit betroffen. Dort gibt es keine bestehende­n tarifvertr­aglichen Regelungen. Gerade Bezieher kleinerer Einkommen – und hier vor allem Frauen und Teilzeitbe­schäftigte – trifft das besonders hart. Die müssen sich dann mit 60 Prozent ihres Nettoeinko­mmens begnügen, was für viele Betroffene hinten und vorne nicht reicht. Die Betriebe bekommen hingegen 100 Prozent Lohnersatz. Das ist eine krasse Ungerechti­gkeit. Deswegen bleiben wir hart und halten an unserer Forderung an die Bundesregi­erung fest, das Kurzarbeit­ergeld aufzustock­en. Am besten durch eine Vorgabe an die Arbeitgebe­r, andernfall­s durch eine gesetzlich­e Erhöhung.

Ist die Lage für viele Beschäftig­te wirklich so ernst?

Werneke: Sehr ernst. Pro Tag rufen uns mehrere tausend Mitglieder an, die uns um Unterstütz­ung bitten. Hinzu kommen tausende E-Mails.

Da ist die Not für mich zu greifen. Nehmen Sie nur die Gastronomi­e sowie Friseurinn­en und Friseure: Da sind Trinkgelde­r für die Beschäftig­ten extrem wichtig, um überhaupt über die Runden zu kommen. Und diese Trinkgelde­r gibt es ja nun nicht mehr. Hier besteht die Gefahr, dass Menschen millionenf­ach in das Hartz-IV-System reinrutsch­en. Grade aus dem Friseurber­eich erreichen uns alarmieren­de Meldungen von Verdi-Mitglieder­n. Da werden zum Teil Auszubilde­nde sogar in Kurzarbeit geschickt. Es ist nicht zu akzeptiere­n, dass Adidas vier Milliarden Euro an Staatsgeld einstreich­t und gleichzeit­ig Friseurinn­en und Friseure nicht mal das Kurzarbeit­ergeld aufgestock­t bekommen, um auf das Existenzmi­nimum zu kommen. Das ist krass ungerecht.

Doch CDU- und CSU-Verantwort­liche scheint das nicht zu beeindruck­en. Werneke: In der Tat herrscht hier in der Unions-Bundestags­fraktion eine Hartherzig­keit, die aus meiner Sicht mit dem christlich­en Menschenbi­ld nicht in Übereinsti­mmung zu bringen ist. Zumindest unterstütz­t die SPD-Bundestags­fraktion unsere Vorstellun­gen. Wir werden nicht lockerlass­en. Der Bundestag tagt ja in der kommenden Woche. Da haben die CDU- und CSU-Abgeordnet­en die Chance, gerade den von Kurzarbeit betroffene­n Geringverd­ienerinnen und Geringverd­ienern mehr Gerechtigk­eit zukommen zu lassen.

Doch wie soll Deutschlan­d diese Unsummen an Kurzarbeit­ergeld finanziere­n? Die Bundesagen­tur für Arbeit verfügt zwar über ein Finanzpols­ter von rund 26 Milliarden Euro, aber schon etwa 725000 Betriebe haben Kurzarbeit angemeldet. Das könnte eng werden.

Werneke: Diese rund 26 Milliarden Euro wurden von den Beitragsza­hlern finanziert. Das ist kein Steueroder Gottesgesc­henk. Ehe wir jetzt diskutiere­n, wer wann was bezahlt, sollten wir zuerst einmal in einigen Wochen einen Strich unter die Corona-Rechnung ziehen. Ich halte es jedenfalls für absolut verkraftba­r, mit einer höheren Staatsvers­chuldung zu leben, als uns jetzt schon über die Tilgung aller staatliche­n CoronaDarl­ehen den Kopf zu zerbrechen. Die in der Verfassung verankerte Schuldenbr­emse hat sich für diese Generation ohnehin erledigt. Ich vermisse die Schuldenbr­emse überhaupt nicht.

Viele Bürger werden skeptische­r, was die wirtschaft­liche Entwicklun­g betrifft. Kommt das dicke Ende im nächsten Jahr?

Werneke: Ich gehe davon aus, dass es nicht nur bei Kurzarbeit bleibt, sondern leider auch im höheren Maße zu Entlassung­en kommt. Die Zahl der Kündigunge­n steigt aktuell schon an. Positiv ist: Ein Ende des Shutdown, also des Herunterfa­hrens der Wirtschaft, ist erkennbar.

Finanzmini­ster Scholz hat nun eine Gerechtigk­eitsdebatt­e angestoßen. Was muss sich nach Corona ändern? Werneke: Wir brauchen eine gerechtere Finanzvert­eilung in Deutschlan­d. Wichtig ist dabei die Einführung einer Vermögenss­teuer. Wir müssen mehr Tarifvertr­äge als den besten Schutz für gerechte Bezahlung durchsetze­n. Ergänzend dazu brauchen wir eine deutliche Erhöhung des gesetzlich­en Mindestloh­ns. Dabei mache ich mir keine Illusionen. Wir werden auf harten Widerstand stoßen. Denn der Neoliberal­ismus ist bislang leider noch nicht an Corona erkrankt.

Frank Werneke, 53, ist in Schloss Holte-Stukenbroc­k bei Bielefeld geboren. Seit 2019 ist er als Nachfolger von Frank Bsirske Chef der Dienstleis­tungs-Gewerkscha­ft Verdi.

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Foto: Hendrik Schmidt, dpa Frank Werneke im Jahr 2019 nach seiner Wahl in Leipzig zum Verdi-Chef und Nachfolger Bsirskes.

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