Mittelschwaebische Nachrichten

„Wir müssen liebevolle Kreativitä­t entwickeln“

Die frühere Münchner Regionalbi­schöfin und Vorsitzend­e des bayerische­n Ethikrats, Susanne Breit-Keßler, schaut gemeinsam mit zwei ehemaligen Richtern der Staatsregi­erung in der Corona-Krise auf die Finger

- Interview: Uli Bachmeier

Im Moment hören wir jeden Tag, wie stolz die Regierung auf die Bürger ist, weil sie Disziplin zeigen und sich in der Corona-Krise an die Regeln halten. Kritische Nachfragen, ob das alles wirklich sein muss, ob es gerecht zugeht oder wie eine Exit-Strategie aussehen könnte, aber werden fast schon zum Tabu erklärt. Sie bilden mit den ehemaligen Präsidente­n der Oberlandes­gerichte Nürnberg und Bamberg einen Dreierrat, der kontrollie­ren soll, ob die staatlich verordnete­n Freiheitsb­eschränkun­gen aus ethischer und juristisch­er Sicht angemessen und verantwort­bar sind. Darf es derartige Tabus geben?

Breit-Keßler: In der Diskussion darf es natürlich keine Tabus geben. Es geht um die Grundrecht­e unserer freiheitli­ch-demokratis­chen Grundordnu­ng. Jeder und jede sollte sich dafür verantwort­lich fühlen und mitdenken. Wir erwarten allerdings, dass diese Diskussion mit Sachargume­nten geführt wird.

Wie beurteilen Sie das aktuelle Krisenmana­gement?

Breit-Keßler: Die bisher verfügten Maßnahmen haben gezeigt, dass wir in der Frage des Lebensschu­tzes ganz allmählich vorankomme­n. Zugleich ist die Gefahr durch Corona längst nicht gebannt, weil es bislang keinen Impfstoff und keine Medikament­e gibt. Leichtsinn ist nicht angesagt. Niemand will und darf schuld sein am Tod anderer. Ganz behutsam hat jetzt eine Exit-Strategie begonnen, die in 14-tägigen Abständen überprüft werden muss: Geht es medizinisc­h voran oder erleben wir Rückfälle? Können wir weitermach­en mit einer ansatzweis­en Normalisie­rung oder müssen wir erneut innehalten? Die Zahlen der Virologen spielen dabei selbstvers­tändlich eine zentrale Rolle.

Die Situation ist außergewöh­nlich und für Regierende, die Verantwort­ung tragen, zweifellos auch außergewöh­nlich belastend. Es gibt keine Blaupause und kein Lehrbuch für richtig oder falsch. Aber gerade mit Blick auf die Schwächste­n in der Gesellscha­ft kristallis­iert sich heraus, dass nicht alles richtig gemacht wurde. Man hat sich zu Beginn der Krise zum Beispiel vor allem um die Krankenhäu­ser gekümmert. Das war sicherlich richtig. Aber erst jetzt, nach einer Serie von Todesfälle­n, kümmert man sich auch verstärkt um Alten- und Pflegeheim­e oder um Einrichtun­gen für Behinderte. Haben Sie sich die Entscheidu­ngen und Entscheidu­ngsprozess­e angesehen?

Breit-Keßler: In Dilemma-Situatione­n, wie wir sie jetzt erleben, gibt es nicht einfach richtig oder falsch. Und es ist sogar noch komplizier­ter: Wenn man das Richtige tut, kann

zugleich gegen das Richtige verstoßen. Die Politiker müssen entscheide­n, sie müssen handeln. Wir schauen ihnen als unabhängig­es Gremium genau auf die Finger. Aber niemand, auch wir nicht, kann immer alles gleichzeit­ig gleich gut erledigen. Und dennoch haben Sie mit Ihrer Frage auch recht: Das, was für unsere Gesellscha­ft belastend ist, muss man sehr genau analysiere­n. Im Blick auf die Alten- und Pflegeheim­e sind wir noch dabei. Da werden wir verstärkt darüber nachdenken, wie bei aller Einhaltung des gebotenen Infektions­schutzes Mitmenschl­ichkeit besser möglich wird: Das absolute Primat „Sicherheit“kann durch Kontaktspe­rre auf andere, schmerzlic­he Weise lebensbedr­ohlich werden.

Wie weit können die Einschränk­ungen gehen? Ein geistig Behinderte­r oder eine Demenzkran­ke leiden unter Umständen sehr darunter, wenn ihr Betreuer ihn nicht mehr in den Arm nehmen darf.

Breit-Keßler:

Das ist richtig. Und es

einem das Herz. Ich kann oft nicht mehr schlafen, wenn ich daran denke, dass demente Menschen derzeit keinen Besuch bekommen. Zugleich: Wer von uns will dafür verantwort­lich sein, wenn ein Mensch mit Behinderun­g sich am Pfleger ansteckt – oder umgekehrt – und dann stirbt? Ich wage mir das gar nicht auszumalen. Wir sollten weniger beklagen, was nicht geht im Augenblick. Wir müssen stattdesse­n mit aller Kraft liebevolle Kreativitä­t entwickeln, um Nähe ohne Berührung zu leben. Ideen dafür gibt es schon.

Und was ist mit todkranken Menschen? Darf man Kindern verbieten, ihre sterbende Mutter oder ihren sterbenden Vater zu besuchen? Breit-Keßler: Der Besuch bei Sterbenden ist für die Familie erlaubt.

Es sind aber Fälle dokumentie­rt, in denen versucht wurde, einen Besuch zu untersagen.

Breit-Keßler: Ich würde mir, auch in belastende­n Situatione­n, die geltenden Regeln auf den Seiten des Inman nen- und des Gesundheit­sministeri­ums im Internet durchlesen. Dazu die Verordnung­en aus dem Netz herunterla­den und notfalls damit in die Klinik gehen. Natürlich kann man auch ein Gericht anrufen.

Gesundheit ist ein hohes Gut, Glück und Freiheit aber auch. Was macht der Dreierrat, um darauf zu achten, dass die Balance gewahrt wird? Breit-Keßler: Wir prüfen alle Entscheidu­ngen daraufhin, ob sie sachgerech­t und verhältnis­mäßig sind. Wir wissen: Es geht um Menschenle­ben. Darum, ob wir nicht nur unsere eigenen Wünsche respektier­en, sondern auch die Bedürfniss­e derer achten, die älter sind, die schwere Vorerkrank­ungen haben, die behandeln und pflegen. Übrigens: Auch unsere Kleinen sind gefährdet – die unter einem Jahr und bis zu fünf Jahren! Sie alle brauchen ausreichen­d Fürsorge und Behandlung, brauchen Zeit für fachliche und menschlich­e Zuwendung. Wir müssen unter allen Umständen die Triage vermeiden, die in anderen Länbricht dern angewendet wird – das Auswählen, wer behandelt wird und wer nicht, wer – welch grausame Vorstellun­g! – abgehängt wird vom Beatmungsg­erät zugunsten eines anderen. Also: Je weniger auf einen Schlag krank sind, desto besser.

Noch einmal zum Anfang. Sie haben in einem Interview sinngemäß gesagt, man dürfe nicht zu schnell vorpresche­n, um keine falschen Hoffnungen zu wecken. Das kann in einer Demokratie aber doch nicht heißen, dass man nicht drüber diskutiere­n darf. Wo bleibt da der mündige Bürger? Breit-Keßler: Der mündige Bürger sollte sich über verantwort­ungsvolle Medien – wie die Augsburger Allgemeine – informiere­n, sich eine fundierte Meinung bilden und mitreden. Uns im Dreierrat treiben die Leitziele des uneingesch­ränkten freiheitli­chen Miteinande­rs und der Wiederhers­tellung der Normalität in unserem Rechtsstaa­t an. Dennoch tragen wir die bisherigen Maßnahmen mit, weil sie begründet, menschlich angemessen und zeitlich beschränkt sind. Die zeitliche Beschränku­ng, die kurzen Abstände, die für die Verordnung­en und gegebenenf­alls ihre Verlängeru­ngen gelten, überzeugen nicht allein uns, sondern ganz offensicht­lich auch die unabhängig­en Gerichte.

An welchen Punkten hat der Dreierrat denn bisher eingegriff­en? Breit-Keßler: Wir haben verschiede­ne Dinge angeregt und sind dabei auf offene Ohren gestoßen: die zunächst geschlosse­nen Zeitungslä­den wieder zu öffnen, die Ausländerb­eiräte intensiver an der Informatio­n unserer Mitbürger und Mitbürgeri­nnen mit Migrations­hintergrun­d über die Maßnahmen der Staatsregi­erung zu beteiligen sowie in Einzelfäll­en und besonderen Nöten Abhilfe zu schaffen. Das Kabinett hat unseren Vorschlag aufgegriff­en, dass alleinsteh­ende Menschen auch mit jemand spazieren gehen können, der nicht ihrem Haushalt angehört, oder dass ältere Menschen bald wieder eine Fußpflege bekommen können. Von uns kommt schließlic­h die dringende Empfehlung, eine künftige nationale Bevorratun­g und Produktion­skapazität von Schutzmask­en, Medizin oder medizinisc­hem Material ins Auge zu fassen. Die offensicht­liche Abhängigke­it von China, Indien und anderen Ländern erweist sich als nicht hilfreich.

Susanne Breit-Keßler wurde 1954 in Heidenheim an der Brenz geboren. Sie war 18 Jahre lang Regionalbi­schöfin von München und Oberbayern.

 ?? Archivfoto: Andreas Gebert, dpa ?? „Wir prüfen alle Entscheidu­ngen daraufhin, ob sie sachgerech­t und verhältnis­mäßig sind“, sagt Susanne Breit-Keßler. Die frühere Münchner Regionalbi­schöfin ist Vorsitzend­e des bayerische­n Ethikrates.
Archivfoto: Andreas Gebert, dpa „Wir prüfen alle Entscheidu­ngen daraufhin, ob sie sachgerech­t und verhältnis­mäßig sind“, sagt Susanne Breit-Keßler. Die frühere Münchner Regionalbi­schöfin ist Vorsitzend­e des bayerische­n Ethikrates.

Newspapers in German

Newspapers from Germany