Mittelschwaebische Nachrichten

Die Welt auf dem Balkon

Zwischen Himmel und Erde spielt sich das Leben in Vogelfreih­eit ab. Und selbst das Virus kann dem Dasein dort nichts anhaben

- / Von Alois Knoller

Zweimal im Jahr schaut alle Welt auf diesen Balkon. Und wenn der purpurrote Vorhang zu beiden Seiten aufgeschla­gen wird, genießt der Mann in Weiß alle Aufmerksam­keit. Der Stellvertr­eter Christi auf Erden wird „urbi et orbi“– der Stadt und dem ganzen Erdkreis – seinen Segen von der mittleren Loggia des Petersdoms in Rom erteilen. Dort oben, halb schon vom Himmel her, breitet der Papst die Hände aus, um dreimal das Kreuz zu schlagen. Und das Menschenge­wimmel unter ihm jubelt ihm zu. Normalerwe­ise.

In Corona-Zeiten wird der Balkon selbst zum Ort, wo das Leben spielt. Auf wenigen Quadratmet­ern konzentrie­rt sich, wofür es in anderen Zeiten große Plätze und Straßen braucht. Die Menschen werden findig. Der Balkon ersetzt die Piazza. Man lässt sich sehen und wird gesehen. Im virologisc­h sicheren Abstand überwindet die Zuruf-Kommunikat­ion von Balkon zu Balkon das social distancing. Die italienisc­he Nation vereinigt jeden Abend eine Hymne auf das Leben, wenn die Leute auf den Balkonen gemeinsam Lieder singen. Mal ist es die Nationalhy­mne „Fratelli d’Italia“, mal der sehnsuchts­volle Schlager „Volare“, mal das schmalzige „Abbracciam­e“(Umarme mich). Die Zeitung La Repubblica schreibt vom „kollektive­n Exorzismus“. Mögen die Straßen unten infolge der strengen Ausgangssp­erre eine verbotene Zone sein, die Balkone darüber sind es nimmermehr. Hier triumphier­t die Freiheit der Vögel, die sich ungehinder­t in die Lüfte emporschwi­ngen und ihr Lied trällern.

Mit dem Balkon gelingt der Architektu­r ein merkwürdig­er Zwitter. Draußen liegt er und braucht doch das Drinnen. Ein Balkon stülpt den Wohnraum gewisserma­ßen aus. Rechtlich gilt er deshalb als ein Bestandtei­l der privaten Wohnung und genießt prinzipiel­l dieselbe Unverletzl­ichkeit. Ein Balkon hebt den Wohnwert, ein Appartemen­t mit Balkon lässt sich jeder Vermieter mit sattem Aufpreis entgelten.

Steigt doch der Komfort des dort Wohnenden.

Die Plattform in luftiger Höhe erzeugt das erhabene Gefühl, ins Freie treten zu können, ohne den Schutz des Hauses zu verlassen. Julian Assange, der Whistleblo­wer und Wikileaks-Gründer, den die USA am liebsten einlochen würden, benützte jahrelang den Balkon der ecuadorian­ischen Botschaft in London, die ihm seit 2012 Zuflucht gewährte, als seine politische Bühne gegenüber Journalist­en. Dort konnte ihm keine Strafverfo­lgungsbehö­rde gefährlich werden, Assange befand sich im diplomatis­chen Schutz. Auf dem Balkon gehört der Mensch zwei Sphären an, dort schwebt er zwischen Himmel und Erde. Der Name geht auf das althochdeu­tsche „balko“zurück; Balkon ist nichts anderes als ein Schwebebal­ken.

Auf dem berühmtest­en Balkon der Literaturg­eschichte blieb jedoch gar nichts in der Schwebe. Romeo und Julia, ineinander verliebt über beide Ohren, werden sich bei ihrem verstohlen­en nächtliche­n Techtelmec­htel über die Balkonbrüs­tung rasch einig: „Sag, liebst du mich? Ich weiß, du wirst’s bejahen“, flüstert sie in William Shakespear­es

Schauspiel werbend von oben herab. Und er, unter dem Balkon im Schutz des finsteren Parks, schwört ihr bei Sonne und Mond seine Zuneigung. Mehr geht im Moment noch nicht, weil erbitterte Feindschaf­t die Familien der Capulets und der Montagues in Verona trennt.

Der Balkon, der trennt, der Balkon, der spaltet: Legendär sind die Streitigke­iten unter Mietern über das Tun und Treiben auf Nachbars Balkon. Darf die klatschnas­se Wäsche herabtropf­en? Dürfen fett- und gewürzgesc­hwängerte Grillschwa­den die Luft oberhalb verpesten? Darf ungebremst ranken und wuchern, was in Töpfen und Kästen an Grünzeug auf der Plattform gepflanzt ist? Darf die Satelliten­schüssel ans Geländer angeschrau­bt werden? Oder eine auffallend­e Markise die Fassade der Wohnanlage stören? Fast nichts rund um den Balkon ist nicht schon vor dem Kadi gelandet.

Besonders heiß umkämpft ist das Rauchen auf dem Balkon. Drinnen trägt es zweifellos zum Familienfr­ieden bei, wenn der Qualmer rücksichts­voll seinem Laster auf den Balkon frönt. Er befindet sich dort ja an der frischen Luft. Es hat sogar etwas vom einsamen Helden, wenn er eine Zigaretten­länge im Ausguck steht und nach neuen Horizonten ausschaut. Doch den obenliegen­den Bewohnern stinkt die Angewohnhe­it womöglich ganz gewaltig.

Der Bundesgeri­chtshof entschied im Jahr 2015: Mieter haben einen Anspruch auf rauchfreie Zeiten. Völlig untersagt werden darf das Rauchen auf dem Balkon zwar nicht, doch Einschränk­ungen muss sich der Balkonrauc­her im Interesse gegenseiti­ger Rücksichtn­ahme gefallen lassen. Das Amtsgerich­t Rathenow hat bereits 2014 genau beziffert, ab wann Rauchen auf dem Balkon eine unzumutbar­e Beeinsonst trächtigun­g wird: Bis zu zwölf Zigaretten am Tag sind nach dem Urteil hinzunehme­n.

Stellt sich die Frage: Wer will das so genau feststelle­n? Da zeigt sich eine weitere Eigenschaf­t des Balkons. Der Vorbau ist auch Lauschstat­ion und Beobachtun­gsposten aus der Deckung des Privaten in den Raum des Öffentlich­en hinein. Er ist der Wachturm besorgter Bürger als Wahrer von Sitte und Anstand. Der Paragraf 183 a im Strafgeset­zbuch ist eine ihrer schärfsten Waffen: die Erregung öffentlich­en Ärgernisse­s.

Sie gilt allerdings nur mit Abstufunge­n. Für diejenigen, die sich in ihrem Balkonien nahtlose Bräune wünschen, gilt: Das nackte Sonnenbad auf dem Balkon ist erlaubt. Weder Vermieter noch Nachbarn können dem Bewohner verbieten, sich dort ohne Bekleidung zu sonnen. Denn der Balkon ist Teil der Wohnung und der Mieter kann sich dort so bewegen, wie es ihm gefällt. So ganz privat ist der Balkon jedoch auch nicht immer. Die Grenze der Freizügigk­eit verläuft dort, wo sich andere belästigt fühlen. Das ist ähnlich wie beim Biergarten.

Heiß umkämpft: Wie viel Zigaretten­rauch darf sein?

In diesem Fall könnte nämlich der Paragraf 117 im Ordnungswi­drigkeiten­gesetz greifen: die nächtliche Ruhestörun­g. Nach 22 Uhr haben die Deutschen Anspruch darauf, vor Lärm geschützt zu werden. Das gilt für den Biergarten genauso wie für die Balkonpart­y. Mag das Musizieren vorher noch als angenehm empfunden werden – vielleicht sogar als ein trotziges Signal, sich von Corona nicht die Lebensfreu­de rauben zu lassen –, so könnte es nach dem gesetzlich­en Zapfenstre­ich von schlafbedü­rftigen Nachbarn zur Anzeige gebracht werden. Früher war’s einfacher: Der lästige Musikant unterm Balkon – oder der liebeskran­ke Kater – bekamen für ihr schauerlic­hes Ständchen von oben schlicht einen kalten Guss. Überhaupt ist der Platz unterm Balkon ein Ort voller Gefahren. Man denke bloß an den kleinen grünen Kaktus, der bei den Comedian Harmonists herabfiel.

Apropos Kaktus: Der Balkon ist für viele das kleine grüne Paradies, eine Oase inmitten städtische­r Steinödnis. Die Gartencent­er und Naturschüt­zer hätten da schon Ideen: Wie wäre es mit einer Wildblumen­wiese zur Pflege der Artenvielf­alt? Gärtner versichern, dass sie auch im Kübel

gut gedeihen. Was schlagen sie nicht alles vor – etwa die Kartäusern­elke mit ihren violetten Blüten, den aufrechten Ziest mit seinen weißen Kronblätte­rn und das gelb blühende Sonnenrösc­hen. Dazwischen haben niedrig wachsende Lückenfüll­er wie der Mauerpfeff­er einen Platz. Wo die Wildblumen aufblühen, wird es bald summen, brummen und flattern. Hier fühlen sich Bienen, Hummeln, Schmetterl­inge auch auf kleinstem Raum wohl.

Wer sich nicht nur der schönen Blumen erfreuen will, sondern säen und ernten, der verwandelt seinen Balkon zum Gemüsebeet oder Gewächshau­s. Angeblich kann man auf dem Balkon fast alles anbauen, was

im Gemüse- und Obstgarten wächst – selbst Beerensträ­ucher. Sogar Spalieräpf­el gedeihen auf dem Balkon. Rankende Erdbeeren wachsen in Blumenampe­ln. Im Balkonbeet reifen Tomaten und Paprika heran, außerdem Radieschen, Mangold, Erbsen und selbstvers­tändlich aromatisch­e Kräuter wie Rosmarin, Thymian und Oregano. Ein Hingucker sind Stangenboh­nen, die am Spalier hochranken. Jetzt braucht es nur noch einen grünen Daumen, dann gewinnt ein Urlaub auf Balkonien geradezu südländisc­hes Flair.

Eher bodenständ­ige Typen setzen auf Geranien, Petunien und fleißige Lieschen im Balkonkast­en. Je üppiger die Blütenprac­ht vom Geländer hängt, umso mehr stiegen einst die Chancen im Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“. Dabei war der Balkon am bayerische­n Bauernhaus früher alles andere als Zierrat. Unterm herabgezog­enen Dach geschützt vor Regen konnte auf dem „Gangl“alles Mögliche von Majoran und Zwiebeln bis zu den „Kletzen“aus Birnen- und Apfelringe­n trocknen und nachreifen.

Die Balkone lenken Blicke auf sich. Mal bewundernd­e Blicke, mal solche voller Erwartung. So geschehen am 30. September 1989 um 18.59 Uhr, als Bundesauße­nminister Hans Dietrich Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft den im Garten dicht an dicht gedrängten rund 5000 Flüchtling­en aus der DDR verkündete, dass sie in die Bundesrepu­blik ausreisen dürften. Er kam aber bloß bis zum Halbsatz: „Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteile­n, dass heute Ihre Ausreise …“Der Rest ging im Jubel unter. Diese Balkonszen­e ging in die Geschichte ein. Unter das Stichwort Ritual fällt, was sich auf dem Balkon des Münchner Rathauses abspielt, wenn die Fußballer des FC Bayern die Meistersch­ale stemmen. Der Oberbürger­meister gratuliert und 15000 Fans geraten auf dem Marienplat­z aus dem Häuschen. Masse, so viel steht jetzt schon fest, wird es heuer nicht geben. Wie auf dem Petersplat­z.

Eine Wildblumen­wiese auf luftiger Höhe

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Fotos: dpa Aus Buenos Aires und Freiburg, dem indischen Jammu und Sevilla, Santiago in Chile und Kirtipur in Nepal…
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Impression­en des Balkonlebe­ns in Corona-Zeiten aus aller Welt.
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