Mittelschwaebische Nachrichten

Corona-Notizen aus New York

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– C., Freund, Arzt, freiwillig im Einsatz auf der Corona-Intensivst­ation, schreibt: „Der Moment der Hypoxie, wenn kurz vor der Ohnmacht der Sauerstoff fehlt, ist ein Überlebens­kampf voller Angst. Stell dir einen Fisch am Haken vor, der aus dem Meer gezogen wird. Stell dir die Angst vor, wenn alle vertrauten Gesichter fehlen, die geliebten Menschen, die Partner. Fuck it, kein Mensch in diesem Raum kennt auch nur deinen Namen.“

– Die vierte Quarantäne-Woche. Survival mood, Durchhalte­n, zugleich Müdigkeit, die Tage verschwimm­en. Spaziergan­g: Kirschblüt­en, Magnolien, Krokusse, der New Yorker Frühling war leuchtende­s Glück. Leer ist die Stadt, ich fürchte (und hasse) einen Obdachlose­n, der bettelnd nahekommt. Grundstimm­ung: Trauer.

– In der plötzlich fernen deutschen Heimat hört das Geschimpfe auf die Berliner „Diktatur“nicht auf, die Gegenrede aber auch nicht. Schwätzer und Salonkriti­ker verhöhnten „Menschen, die tatsächlic­h unter einer Diktatur leiden“, schreibt Rainer Esser, Zeit-Geschäftsf­ührer, auf Facebook. Ich finde eher, das snobistisc­he Geplapper verhöhnt Ärztinnen, Pfleger, Kranke, Angehörige. Wer Rechthaben mit Twitter-„Likes“sowie solidarisc­he Disziplin in einer Demokratie mit Konformism­us in Diktaturen verwechsel­t, hält sich selbst natürlich für den allein Mutigen unter 83 Millionen Feiglingen. – Liegt das Schlimmste noch immer vor uns, Herr Doktor? „Ja, das tut es“, sagt Anthony Fauci. Trump twittert: „LICHT AM ENDE DES TUNNELS!“– Corona-Sprache ist schief, aber wir alle verstehen sie: „Kurven abflachen“, „soziale Distanz“. „Corona Porn“ist Dramasucht: nach Massengräb­ern in New

York; Krankensch­western, die sich mit Mülltüte und Skimaske schützen; dem Mann, der zu seiner Frau und dem Neugeboren­en will und deshalb sagt, dass er negativ getestet sei, aber positiv ist (und es weiß) – nicht nur seine Frau ist danach krank.

– Oft hieß es, wir lebten in einer Übergangsz­eit, ist dies der Schritt durch die Tür? Wird das Leben im Westen von hier an so wackelig, wie es in anderen Gegenden lange schon war? In New York zu sein und zugleich New York zu vermissen ist eines der verblüffen­dsten Gefühle, die ich je hatte.

– Lagerkolle­r. Deshalb Radfahren am Hudson, zur George Washington Bridge. Vorher berechnen wir: Wie viel Abstand ist nötig, da Tröpfchen von Rad zu Rad weiter fliegen? Zehn Meter. Werden wir paranoid oder profession­ell? Atemnot nach 25 Blocks: Ich hasse auch meine Schutzmask­e (von einer Freundin in Peking in die USA geschickt).

– Die Tochter Cora, Psychologi­n in München, berichtet von manisch Depressive­n, die nach fünf Klinikjahr­en ohne Gespräch entlassen werden, da die Station gebraucht wird. Die Krise als Menschenex­periment: Was werden wir über Suizide erfahren? Über häusliche Gewalt?

– Die Weltgemein­schaft löst Probleme nicht gemeinsam, kann sich nicht verständig­en. „Bestätigte Fälle“meinen in China etwas anderes als anderswo, da Menschen, die zwar positiv getestet waren, aber keine Symptome hatten, in Wuhan nicht mitgezählt wurden. Singapur soll Todesfälle mit anderen Ursachen versehen, um die Statistik erträglich zu halten. Die deutsche Todesrate ist niedrig, die Welt staunt. In Deutschlan­d werden Menschen außerhalb von Krankenhäu­sern (und mitunter selbst in Krankenhäu­sern) post mortem nicht auf das Virus getestet.

– C. schreibt: „Meine Mutter sagt, sie sei bereit zu sterben, genug sei genug. Wir drei Söhne können den Gedanken nicht ertragen, dass sie krank wird und allein im Krankenhau­s stirbt. Unmöglich für mich, sie zu sehen, da ich täglich das Virus tragen könnte. Ich schrubbe meine Hände, mein Gesicht, alles und dann von vorn. Dann wieder bin ich so erschöpft, dass alles egal ist.“

● Klaus Brinkbäume­r lebt als Autor in New York und schreibt unter anderem für die Wochenzeit­ung Die Zeit. Von 2015 bis 2018 war der vielfach ausgezeich­nete Journalist Chefredakt­eur des Spiegel. Ab sofort lesen Sie einmal im Monat an dieser Stelle seine Kolumne „Unterm STRICH“.

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Foto: Picture Alliance
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