Mittelschwaebische Nachrichten
Nicht ohne meine Nachbarn
Zum Glück gibt es Menschen, mit denen ohnehin das perfekte Nähe-Distanz-Verhältnis herrscht
Noch nie musste ich so oft die Frage beantworten, wie es mir geht. Gesund: Ja! Einsam: Nein! Damit die Menschen mir das mit der Nicht-Einsamkeit auch glauben, spule ich Erklärungen ab: dass ich im Job viel telefoniere. Dass ich eh viel Ruhe brauche. Und irgendwann fällt immer der Satz: „Und dann habe ich ja noch meine Nachbarn.“Was man an denen hat, merkt man jetzt erst so richtig. Wir wohnen in einem Sechs-ParteienHaus, „Eichhörnchenhaus“genannt, und ich fand schon vor Corona, dass wir etwas Besonderes sind. Nicht nur jeder für sich, sondern als Gemeinschaft, einfach nett. Wir singen zwar abends nicht zusammen von den Balkonen, dafür trinken wir da morgens zusammen Kaffee oder abends Wein.
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Früher konnte ich reinschreiben, wenn mir nach Ladenschluss eine Kochzutat gefehlt hat. Zwei Minuten später hatte ich den Ingwer – und meine Nachbarin einen Tag darauf ein Glas Chutney vor der Tür. Als fast alle Läden geschlossen wurden, musste ich um Hilfe bitten, als meine Telefonakkus am ersten Tag des Homeoffice fanden, sie seien jetzt wirklich zu altersschwach, um sich noch aufladen zu lassen. Der Nachbarin brach die Nähmaschinennadel beim Maskennähen ab – die der alten Nähmaschine meiner Oma im Keller passt. Weil viele von zu Hause aus arbeiten, sieht man sich öfter kurz in der Mittagspause beim Müllraustragen; vom Fenster aus geht der Blick auf den Hof, der wechselweise als Spielplatz, Turnraum, Sonnenstudio, Kreidemalatelier und Leseecke genutzt wird. Das verbindet, obwohl jeder für sich lebt; es ist weniger Mietshaus, mehr WG. Von Balkon zu Balkon ist immer Zeit für ein Schwätzchen über die kleinen Themen des Alltags: Hat der Supermarkt im Viertel Klopapier (meistens nicht)? Ist an der Wertach sehr viel los (eigentlich immer)? Aus der Abschottung, in die man im Homeoffice trotz aller Telefonate schon mal verfallen kann, schreckt mich das Klingeln der Nachbarskinder auf, die Blumenerde brauchen.
All das bringt ganz beiläufig ein Stück Normalität und Abwechslung in den Corona-Alltagstrott. Das perfekte Nähe-Distanz-Verhältnis, räumlich und menschlich. „Standby Community“nennt man das, hat mir einmal ein Soziologe erklärt. Ich glaube, das wird etwas sein, das uns nach Corona bleibt, weil es stimmt: Zusammen ist man weniger allein.
Meine Kollegin meinte über diesen Bericht etwas neidisch zu mir: Schönes Thema, sie hätte nicht so tolle Nachbarn. Nur solche, die laut Techno hören. Ich erinnere mich dunkel. So einen hatten wir auch mal. Nicht lange. Wir sind eine nette Gemeinschaft.
An dieser Stelle berichten Kolleginnen und Kollegen aus der Redaktion vom Alltag in Zeiten von Corona.