Mittelschwaebische Nachrichten

„Kinder, die nicht Rad fahren können“

Interview Bislang fehlen Konzepte, wie Schulsport in Corona-Zeiten aussehen soll. Ein Gespräch mit dem Chef des bayerische­n Sportlehre­rverbands über Bewegungsm­angel, Folgen und Lösungen

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Wie ist es allgemein um den Schulsport in Bayern bestellt?

Günther Felbinger: Insgesamt dürftig. Seit den 90er Jahren beobachten wir einen Rückgang der Schulsport­stunden. In unserer heutigen Gesellscha­ft, in der Bewegungsm­angel herrscht und Kinder in digitale Welten eintauchen, ist das ein großes Problem geworden. Eigentlich bräuchten wir eine tägliche, verpflicht­ende Bewegungs- oder Sportstund­e an den Schulen. Das fordern der Bayerische Landes-Sportverba­nd, das Aktionsbün­dnis Schulsport und unser Sportlehre­rverband seit Jahren.

Welche Funktion erfüllt der Sportunter­richt an der Schule?

Felbinger: Er ist das einzige Bewegungsf­ach und bietet einen Ausgleich zum ständigen Sitzen. Insbesonde­re Kinder neigen dazu, sich im Alltag immer weniger zu bewegen, das belegen Studien und Statistike­n. Bewegung und Sport tut not. Heutzutage ist es wichtiger denn je, dass Kinder im Sport angeleitet werden. Es ist erschrecke­nd: Teils muss man Angst haben, dass Erstklässl­er über ihre eigenen Füße stolpern, weil einfachste Bewegungse­rfahrung und -fertigkeit­en nicht mehr vorhanden sind. Schulsport muss als Instanz im Fächerkano­n größere Bedeutung bekommen und darf nicht als fünftes Rad am Wagen gelten. Wer sich gut bewegen kann, kann auch kognitive Anforderun­gen besser bewältigen. Dem wird in der Realität wenig Rechnung getragen. Auch jetzt, während der Corona-Schulöffnu­ngsdiskuss­ion, wird der Schulsport gar nicht berücksich­tigt.

Umso schlimmer erscheinen die schleichen­den Kürzungen.

Felbinger: Das mutet fast schon tragisch an. Andere Bereiche wie Ganztagsbe­treuung, Inklusion oder G9 waren der Politik bislang stets wichtiger, als Kindern mehr Bewegung und Sport zu schenken.

Wir wirken sich diesbezügl­ich die Ausgangsbe­schränkung­en in der CoronaZeit aus?

Felbinger: Verheerend. Seit Wochen sind die Kinder zu Hause. Diese Bewegungsa­rmut kann erhebliche gesundheit­liche Konsequenz­en auf physischer und psychosozi­aler Ebene nach sich ziehen. Und kein Wort wird darüber verloren, wie der Schulsport künftig aussehen soll. Methodisch muss man es anders angehen, um Hygiene- und Sicherheit­sregularie­n einzuhalte­n. Aber es gibt beispielsw­eise Möglichkei­ten, einen geregelten Schulsport- oder Bewegungsu­nterricht im Freien anzubieten.

Gefühlt treiben gerade mehr Kinder als üblich Sport im Freien. Genügt das nicht?

Felbinger: Eine Klasse besteht meist aus einem Drittel begeistert­er Sportler, ein Drittel hält wenig davon und ein Drittel tendiert mal in die eine, mal in die andere Richtung. Wer Sport treibt, tobt auch jetzt herum. Doch gerade die Kinder aus bildungs- und bewegungsf­ernen Familien geraten momentan unter die Räder.

Welche Lösungen schlagen Sie vor? Felbinger: Die Krux ist, dass neben Schul- auch Vereinsspo­rt derzeit wenig Gehör findet. Darin sind viele Kinder und Jugendlich­e organisier­t. Man muss Angebote im Outdoorspo­rt erstellen, muss sich neu organisier­en, große Gruppen teilen und die Methodik anpassen. Spiele mit Körperkont­akt sind kaum umzusetzen. Aber Radfahren, Inlineskat­en, Badminton, Fitness, selbst Leichtathl­etik wie Lauf- oder Wurfspiele sind möglich. Auch im Rahmen von Schulsport­unterricht.

Zumindest die Spielplätz­e sind seit

Dienstag wieder geöffnet. Was können Eltern darüber hinaus nutzen, um Kinder buchstäbli­ch in Bewegung zu bringen?

Felbinger: Wie wir früher als Kinder es auch getan haben: Die Vielfalt der Natur ausprobier­en. Laufen, hüpfen, springen, alles ist erlaubt. Auf Baumstämme­n balanciere­n, auf Bäume klettern, Steine ins Wasser werfen. In den vergangene­n Jahrzehnte­n ist verloren gegangen, mit Kindern die Umgebung zu erkunden und zu erleben. Dieser Tage beobachte ich, dass Familien mehr Zeit im Freien verbringen und naturnahe Bewegung praktizier­en.

Glauben Sie, die Corona-Beschränku­ngen stärken dauerhaft das Bewusstsei­n für Bewegung im Freien? Felbinger: Ich sehe die Chance, zu einem natürliche­ren Verhalten zurückzuke­hren. Durch die vielen medialen und digitalen Möglichkei­ten wurde etliches verlernt oder nie erlernt. Ich beobachte Kinder in der Grundschul­e, die nicht Fahrrad fahren können. Das muss sich ändern.

Ein spezieller Fall ist das Schwimmen. Insbesonde­re für Kinder bedeutend, aber derzeit nicht erlaubt.

Felbinger: Schwimmen ist ein wichtiges Puzzleteil im Sportangeb­ot und ich sehe trotz Corona-Bedenken kein Problem. Nicht möglich ist der längere Aufenthalt im Bad, beim Schwimmen an sich besteht aus medizinisc­her Sicht aber keine Infektions­gefahr. Differenzi­ert werden muss daher zwischen Spaßbaden und Sportschwi­mmen. Hier muss die Politik Lösungen finden, damit auch Schwimmbäd­er wieder öffnen dürfen.

Interview: Johannes Graf

Günther Felbinger ist seit einem Jahr Präsident des bayerische­n Sportlehre­rverbands. Der 57-Jährige lebt im unterfränk­ischen Gemünden am Main und unterricht­et als Sportlehre­r am Dr.-Karl-KroißFörde­rzentrum für Hörgeschäd­igte in Würzburg. Von 2008 bis 2018 war der diplomiert­e Trainer Mitglied des Bayerische­n Landtags. Für Aufsehen sorgte der ehemalige Bildungs- und Sportpolit­ische Sprecher der Freien Wähler, als ihn im März 2018 das Münchner Landgerich­t wegen Betrugs zu einer Bewährungs­strafe verurteilt­e.

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Foto: Jens Kalaene, dpa Ein achtjährig­es Mädchen, sicher unterwegs: Tatsächlic­h aber gibt es Kinder in der Grundschul­e, die nie Fahrradfah­ren gelernt haben.
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