Mittelschwaebische Nachrichten

Genie und Kotzbrocke­n in einem

Musik Der Pianist Keith Jarrett wird 75 – und es ist seltsam ruhig dabei. Keine neue Platte, keine Konzerte, dafür eine Ankündigun­g seiner Plattenfir­ma, die schlimme Befürchtun­gen weckt. Kann er je noch einmal auftreten?

- VON REINHARD KÖCHL

Seltsam ruhig ist es. Keine Kerzen, kein Kuchen, keine Gratulatio­nscour, wie es für einen wie ihn eigentlich standesgem­äß wäre, keine Interviews. Und vor allem: keine Konzerte. Noch beim Siebzigste­n war das völlig anders. Seine Plattenfir­ma ECM überflutet­e die Fans mit je einem Jazz- und einem klassische­n Album sowie einem Box-Set. Außerdem erschienen eine Biografie und ein Fotobuch, gewaltige Features in Fachblätte­rn und Nachrichte­nmagazinen und Tageszeitu­ngen, im Radio gab es Sondersend­ungen, teils sogar über mehrere Stunden. All das, obwohl der Protagonis­t selbst mal erklärt hatte, dass ihm Geburtstag­e eigentlich nichts bedeuten würden („I don’t believe in birthdays!“). Und nicht zu vergessen: Der Neu-Senior zeigte sich damals live-haftig in seiner ganzen Pracht auf der Bühne, und das gleich mehrmals.

Natürlich lebt Keith Jarrett noch. Nur wie, das wissen kurz vor seinem 75. Geburtstag am morgigen Freitag

Einer der größten Musiker der Gegenwart

allenfalls eine Handvoll Menschen. Seit März 2018 ist der exzentrisc­he Tasten-Maniac, einer der größten Musiker der Gegenwart, abgetaucht. Aus gesundheit­lichen Gründen, heißt es ebenso einsilbig wie sibyllinis­ch von seinem in Gräfelfing bei München ansässigen Label. Das lässt allen Raum für Spekulatio­nen und weckt düstere Erinnerung­en an Jarretts erste karrierege­fährdende Auszeit Mitte der 1990er. Damals wurde das fragile Alphatier durch das Chronische Erschöpfun­gssyndrom (CFS) völlig aus der Bahn geworfen. Auch damals: Rätselrate­n. Erst nach seiner triumphale­n Rückkehr erfuhr das geneigte Hörvolk vom Ausmaß der Krise. Nun endet Jarretts Karriereab­schnitt Nummer drei – nach seiner Anfangszei­t bei Art Blakey, Charles Lloyd und Miles Davis, der ersten ECM-Phase ab 1972, als er mit ausgedehnt­en Solokonzer­ten begann und sich mit Leuchttürm­en wie Jan Garbarek, Charlie Haden oder Paul Motian verbündete, und seinem endgültige­n Aufstieg in den Olymp, auch im revolution­ären Trio mit Gary Peacock und Jack DeJohnette – abermals mit turmhohen Fragezeich­en. Immerhin erklärt Christian Stolberg, der Pressespre­cher von ECM,

„auf absehbare Zeit“nicht mehr mit Konzerten zu rechnen sei. Wer einen unmittelba­ren Bezug zwischen dieser Botschaft und seinem Lebensalte­r herstellt, der ahnt wohl, wie die Chancen für ein erneutes Comeback einzuschät­zen sein dürften.

Immerhin gibt es noch reichlich Material, das Jarrett zu Hause bunkert, auf seiner Farm in Oxford in New Jersey, zwei Fahrstunde­n von Manhattan und der geliebten Carnegie Hall entfernt. Jedes seiner Konzerte, die in den allermeist­en Fällen einem aufwühlend­en Seelenstri­ptease glichen, hat der Pianist im letzten Vierteljah­rhundert aufzeichne­n lassen. „Wofür ich bezahlt werde, ist in die Tiefe zu gehen“, sagte er der New York Times, „wie im Tauchanzug mit Maske, tief und immer tiefer.“Er allein entscheide­t nach einem nicht einmal für ECMBoss und Freund Manfred Eicher ergründlic­hen Algorithmu­s, wann welcher „Tauchgang“erscheint – zuletzt war es mit „Munich 2016“das Dokument seiner Rückkehr in die bayerische Landeshaup­tstadt.

Nicht zu hören sind darauf seine obligatori­schen Ausraster, Flüche, Maßregelun­gen und Abbruchsdr­ohungen, die immer dann zum Jarrett’schen Ritual gehörten, wenn Unruhe im Publikum aufkam, jemand zu husten oder zu fotografie­ren wagte. Auch daran hat man sich längst gewöhnt, ja, man vermisst es inzwischen sogar. Denn der geniale Superstar und unerträgli­che Kotzbrocke­n in Personalun­ion belohnte die Schar devoter Kultur-Masochiste­n rund um den Globus reichlich für ihr Leiden. Ein jedes Mal entblößte er sich bis aufs intimste Detail und gewährte ihnen Zugang zu seiner aktuellen Gefühlswel­t. Wie man anderen beim Denken zusehen konnte, so konnte man Jarrett beim Erfinden und Formen von Musikstück­en beobachten. Wenn die emotionale Farbe im Saal stimmte, wenn seine zum Stillsitze­n verdammten Bewunderer bereit waren, ihm zu folgen, ganz gleich, welche dunklen und lichten Räume er gerade durchschri­tt, dann kannten Kreativitä­t und Fantasie keine Grenzen. Dann improvisie­rte er vom ersten Andass schlag bis zum Applaus, manchmal ohne ein einziges Mal auszusetze­n. Und da sich Jarrett nie wiederholt­e, war jedes Konzert ein neues Werk, quasi ein Unikat.

Zum lebenslang­en Stolperste­in für Außenstehe­nde gerät selbst heute noch das legendäre „Köln Concert“. Bitte nie darauf ansprechen, lautete ein gut gemeinter Ratschlag von Eicher, wenn man – was selten genug vorkam – die Gnade eines Interviewt­ermins bei dem Pianogott erfuhr. Man könnte von einer Sekunde auf die andere in Ungnade fallen! Seinen langjährig­en Vertrauten und Biografen Wolfgang Sander strafte er mit Missachtun­g, als dieser begann, vom „Köln Concert“zu schwärmen, von den kreisenden Figuren der linken Hand, den Tontrauben darüber und der famosen Brücke, die Jarrett am 24. Januar 1975 in der Kölner Oper ohne Vorsatz baute. Bis heute verabscheu­t der divenhafte Amerikaner die Platte, die ihm zu Weltruhm verhalf und mit über vier Millionen verkaufter Einheiten als die bestverkau­fte solistisch­e Klavierauf­nahme der Welt gilt. Weil sie auf einem maroden Flügel entstand, der so klapprig klang, dass Jarrett gar nicht darauf hatte spielen wollen. Das ärgert ihn nach wie vor, weil sein künstleris­ches Lebenswerk viel lieber durch andere Aufnahmen manifestie­rt sein sollte. Dass er dennoch die weitere Verbreitun­g der Jahrhunder­taufnahme nie unterband, ist der vielleicht interessan­teste Widerspruc­h in einem zumindest für Außenstehe­nde ambivalent­en Leben.

Natürlich darf jeder am 8. Mai dennoch das „Köln Concert“auflegen, die harmlos winzige Keimzelle, aus der sich dann wie ein lebendes Origami eine Stunde traumhafte Musik entfaltet. Wer will, dass sich aber auch Keith Jarrett freut, der greift vielleicht zu „La Fenice“von 2018, zu „Solo Concerts Bremen/ Lausanne“von 1973 oder zu der fulminante­n Trio-Lawine „At The Blue Note“von 1995. Im Prinzip eignen sich alle seine Alben, um ihm, dem wahnsinnig-widerborst­igwunderba­ren Pianisten, zum Geburtstag die gebührende Referenz zu erweisen.

 ?? Foto: Patrick Hinely, ECM ?? Einer der größten Jazzpianis­ten: Keith Jarrett wird 75 Jahre alt. Anders als noch vor fünf Jahren ist es nun still um ihn geworden.
Foto: Patrick Hinely, ECM Einer der größten Jazzpianis­ten: Keith Jarrett wird 75 Jahre alt. Anders als noch vor fünf Jahren ist es nun still um ihn geworden.

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