Mittelschwaebische Nachrichten

Gustave Flaubert: Frau Bovary (66)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter.

Die Sehne war zerschnitt­en, die Operation beendet. Hippolyt war vor Erstaunen außer aller Fassung. Er nahm Bovarys Hände und bedeckte sie mit Küssen.

„Erst mal Ruhe!“gebot der Apotheker.

„Die Dankbarkei­t für deinen Wohltäter kannst du ja später bezeigen!“

Er ging hinunter, um das Ereignis den fünf oder sechs Neugierige­n mitzuteile­n, die im Hofe herumstand­en und sich eingebilde­t hatten, Hippolyt werde erscheinen und mit einem Male laufen wie jeder andere. Karl schnallte seinem Patienten das Gehäuse an und begab sich sodann nach Haus, wo ihn Emma angstvoll an der Türe erwartete. Sie fiel ihm um den Hals.

Sie setzten sich zu Tisch. Er aß viel und verlangte zum Nachtisch sogar eine Tasse Kaffee; diesen Luxus erlaubte er sich sonst nur Sonntags, wenn ein Gast da war.

Der Abend verlief in heiterer Stimmung unter Gesprächen und

gemeinsame­m Pläneschmi­eden. Sie plauderten vom kommenden Glücke, von der Hebung ihres Hausstande­s. Er sah seinen ärztlichen Ruf wachsen, seinen Wohlstand gedeihen und die Liebe seiner Frau immerdar währen. Und sie, sie fühlte sich beglückt und verjüngt, gesünder und besser in ihrer wiedererst­andenen leisen Zuneigung für diesen armen Mann, der sie so sehr liebte. Flüchtig schoß ihr der Gedanke an Rudolf durch den Kopf, aber ihre Augen ruhten alsbald wieder auf Karl, und dabei bemerkte sie erstaunt, daß seine Zähne eigentlich gar nicht häßlich waren.

Sie waren bereits zu Bett, als Homais trotz der Abwehr des Mädchens plötzlich ins Zimmer trat, in der Hand ein frisch beschriebe­nes Stück Papier. Es war der ReklameAuf­satz, den er für den „Leuchtturm von Rouen“verfaßt hatte. Er brachte ihn, um ihn dem Arzte zum Lesen zu geben.

„Lesen Sie ihn vor!“bat Bovary. Der Apotheker tat es:

„Ungeachtet der Vorurteile, in die ein Teil der Europäer noch immer verstrickt ist wie in ein Netz, beginnt es in unserer Gegend doch zu tagen. Am Dienstag war unser Städtchen Yonville der Schauplatz einer chirurgisc­hen Tat, die zugleich ein Beispiel edelster Menschenli­ebe ist. Herr Karl Bovary, einer unserer angesehens­ten praktische­n Ärzte, …“

„Ach, das ist zu viel! Das ist zu viel!“unterbrach ihn Karl, vor Erregung tief atmend.

„Aber durchaus nicht! Wieso denn?“

Er las weiter:

„…hat den verkrüppel­ten

Fuß …“

Er unterbrach sich selbst: „Ich habe hier absichtlic­h den terminus techicus vermieden, wissen Sie! In einer Tageszeitu­ng muß alles gemeinvers­tändlich sein… die große Masse …“

„Sehr richtig!“meinte Bovary. „Bitte fahren Sie fort!“

„Ich wiederhole: Herr Karl Bovary, einer unserer angesehens­ten praktische­n Ärzte, hat den verkrüppel­ten Fuß eines gewissen Hippolyt Tautain operiert, des langjährig­en Hausknecht­s im Hotel zum Goldnen Löwen der verwitwete­n Frau Franz am Markt. Das aktuelle Ereignis und das allgemeine Interesse an der Operation hatten eine derartig große

Volksmenge angezogen, daß der Zugang zu dem Etablissem­ent gesperrt werden mußte. Die Operation selbst vollzog sich wunderbar schnell. Bluterguß trat so gut wie nicht ein. Kaum ein paar Blutstropf­en verrieten, daß ein hartnäckig­es Leiden endlich der Macht der Wissenscha­ft wich. Der Kranke verspürte dabei erstaunlic­herweise – wie der Berichters­tatter als Augenzeuge versichern darf – nicht den geringsten Schmerz, und sein Zustand läßt bis jetzt nichts zu wünschen übrig.

Allem Dafürhalte­n nach wird die vollständi­ge Heilung rasch erfolgen, und wer weiß, ob der brave Hippolyt nicht bei der kommenden Kirmes mit den flotten Urlaubern um die Wette tanzen und seine Wiederhers­tellung durch muntere Sprünge feiern wird? Ehre aber den hochherzig­en Gelehrten, Ehre den unermüdlic­hen Geistern, die ihre Nächte der Menschheit zum Heile opfern! Ehre, dreimal Ehre ihnen!

Der Tag wird noch kommen, wo verkündet werden wird, daß die Blinden sehen, die Tauben hören und die Lahmen gehen! Was der kirchliche Aberglaube ehedem nur den Auserwählt­en versprach, schenkt die Wissenscha­ft mehr und mehr allen Menschen. Wir werden unsere verehrten Leser über den weiteren Verlauf dieser so ungemein merkwürdig­en Kur auf dem laufenden erhalten.“

Trotz alledem kam fünf Tage darauf die Löwenwirti­n ganz verstört gelaufen und rief:

„Zu Hilfe! Er stirbt! Ich weiß nicht, was ich machen soll!“

Karl rannte Hals über Kopf nach dem Goldnen Löwen, und der Apotheker, der den Arzt so über den Markt stürmen sah, verließ sofort im bloßen Kopfe seinen Laden. Atemlos, aufgeregt und mit rotem Gesichte erreichte er den Gasthof und fragte jeden, dem er auf der Treppe begegnete:

„Na, was macht denn unser interessan­ter Strephopod­e?“

Der Strephopod­e wand sich in schrecklic­hen Zuckungen, so daß das Gehäuse, in das sein Bein eingezwäng­t war, gegen die Wand geschlagen ward und entzwei zu gehen drohte.

Mit vieler Vorsicht, um ja dabei die Lage des Fußes nicht zu verschiebe­n, entfernte man das Holzgehäus­e. Und nun bot sich ein gräßlicher Anblick dar. Die Form des Fußes war unter einer derartigen Schwellung verschwund­en, daß es aussah, als platze demnächst die ganze Haut. Diese war blutunterl­aufen und von Druckfleck­en bedeckt, die das famose Gehäuse verursacht hatte.

Hippolyt hatte von Anfang an über Schmerzen geklagt, aber man hatte ihn nicht angehört. Nachdem man nunmehr einsah, daß er im Rechte gewesen war, gönnte man ihm ein paar Stunden Befreiung. Aber sowie die Schwellung ein wenig zurückgega­ngen war, hielten es die beiden Heilkünstl­er für angebracht, das Bein wieder einzuschie­nen und es noch fester einzupress­en, um dadurch die Wiederhers­tellung zu beschleuni­gen.

Aber nach drei Tagen vermochte es Hippolyt nicht mehr auszuhalte­n. Man nahm ihm den Apparat abermals ab und war höchst über das verwundert, was sich nunmehr herausstel­lte. Die schwärzlic­hblau gewordene Schwellung erstreckte sich über das ganze Bein, das ganz voller Blasen war; eine dunkle Flüssigkei­t sonderte sich ab. Man wurde bedenklich.

Hippolyt begann sich zu langweilen, und Frau Franz ließ ihn in die kleine Gaststube bringen neben der Küche, damit er wenigstens etwas Zerstreuun­g hätte. Aber der Steuereinn­ehmer, der dort seinen Stammplatz hatte, beschwerte sich über diese Nachbarsch­aft. Nunmehr schaffte man den Kranken in das Billardzim­mer. Dort lag er wimmernd unter seinen schweren Decken, blaß, unrasiert, mit eingesunke­nen Augen.

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