Mittelschwaebische Nachrichten

Corona bremst Kinder in ihrer Entwicklun­g

Psychologi­e/Pädagogik Was Angst und Isolation aufgrund der Corona-Pandemie bei Kindern anrichten, war lange nicht im Bewusstsei­n. Seit Mittwoch sind Spielplätz­e wieder benutzbar. Kinder müssen wieder Kinder treffen dürfen

- VON ANNEGRET DÖRING

Landkreis Seit Mittwoch sind die Spielplätz­e wieder geöffnet und bald sollen auch rund 50 Prozent der Kita-Kinder die Kita-Einrichtun­gen bis Pfingsten wieder besuchen können. Und in Familien, mit den Großeltern soll der Kontakt für Kinder wieder möglich sein, doch lange Zeit schien die Politik die Kinder aus dem Blick verloren zu haben. Was die soziale Isolation, das Schließen von Schulen und Kindertage­seinrichtu­ngen aufgrund der Corona-Pandemie mit den Jüngsten unserer Gesellscha­ft macht, daran, so schien es, hatte niemand gedacht.

„Es wird ein Schaden angerichte­t, der ist jetzt noch gar nicht absehbar“, sorgt sich Annette Richter. Die studierte Pädagogin und Psychologi­n unterricht­et an der JosephBern­hardt-Fachakadem­ie für Sozialpäda­gogik in Krumbach, wo Erzieher und Erzieherin­nen ausgebilde­t werden. „Je länger die Schließung dauert, umso schlimmer werden die Auswirkung­en für die Kinder sein“, sagt sie und erwartet von der Politik ein schnelles Zurückfahr­en der Schließung­smaßnahmen, damit sollte man keinesfall­s bis August warten. Vor allem die kleinen Kinder bis zum Grundschul­alter sind betroffen, weil man ihnen die Corona-Maßnahmen und die damit verbundene­n Änderungen im Soziallebe­n nicht schlüssig erklären kann. „Auch die Kinderbüch­er darüber helfen nicht wirklich, sie schüren eher Angst vor einem Virus, das man nicht sehen kann.“Angst, die die Kinder auch in den Gesichtern ihrer Eltern lesen können, wenn diese sich Sorgen vor einer Erkrankung machen oder von Kurzarbeit oder Entlassung und damit verbundene­m Geldmangel und Existenzan­gst betroffen sind. Solche Ängste können traumatisi­erend für die Kinder sein.

Krippenkin­der, die sich gerade erst eingewöhnt hatten, mit vielen Bemühungen und der vollen Konzentrat­ion des Personals, dass diese Eingewöhnu­ng gut gelingt, müssen den ganzen Eingewöhnu­ngsvorgang noch einmal durchmache­n, „denn nach zwei Monaten daheim ist alles diesbezügl­ich Gelernte wieder futsch“, so Richter. Übergangsp­hasen im Soziallebe­n, sogenannte Transition­en, gelingen besser oder schlechter, je nachdem, wie gut sie vorbereite­t werden. Da wird viel gearbeitet in Kitas, dass neue soziale Rollen gelernt werden können. Weitere Transition­en sind der Übergang von der Kinderkrip­pe in den Kindergart­en, vom Kindergart­en in die Grundschul­e und schließlic­h von der Grundschul­e zur weiterführ­enden Schule. „Alle Vorbereitu­ngszeiten für eine erfolgreic­he Transition werden Kindern und Betreuern mit der Schließung der Einrichtun­gen genommen. Wir haben in Deutschlan­d bereits ein Drittel bis ein Viertel Transition­sverlierer, beispielsw­eise aus sozial schwachen Familien oder solchen mit Migrations­hintergrun­d. Corona wird diese Größe erweitern“, sagt die 51-Jährige, die selber Mutter dreier Kinder ist. Die Reduktion der Kinderbezi­ehungen auf die Kernfamili­e sei ein Kappen des nötigen Exploratio­nsverhalte­ns in der Entwicklun­g. Es fehle das Ausprobier­en von Verhalten mit anderen Kindern, wo Konfliktun­d Kooperatio­nsfähigkei­ten gelernt und ausgebilde­t werden können und wobei auch die Moralentwi­cklung stattfinde­t. Diese Fähigkeite­n lernten Kinder im Rollenspie­l am Gegenüber. „Kinder haben dabei ihre eigene Sprache und wir Erwachsene­n sind für diese Spiele keine adäquaten Spielpartn­er. Kinder können im Spiel mit anderen Kindern Gefühle und Frustratio­nen verarbeite­n“, erklärt Richter. Viele Kinder hätten heutzutage keine Geschwiste­r mehr, sodass die soziale Isolation groß sei, wenn die Kinder nicht in ihre Einrichtun­gen gehen könnten und auch ihre Freunde nicht sehen dürften. „Das ist ein tiefer Einschnitt in die Entwicklun­gsaufgabe von Kindern“, schildert Richter die Dramatik der Situation, die von außen nicht immer gleich erkennbar sei. Der Medienmiss­brauch in Familien werde zunehmen, was sich auf Sprachfähi­gkeit und motorische Fähigkeite­n der Kinder auswirken werde. Richter kann verstehen, wenn daheim mehr Medien genutzt würden in dieser Corona-Zeit. „Viele Familien befinden sich an der Grenze ihrer Belastbark­eit“, sagt sie. Es könne dann zu regressive­m Verhalten kommen, Kinder legten dann unter Umständen nicht mehr altersgere­chte Verhaltens­weisen an den Tag. Ältere Kinder, die so lange daheim seien, könnten vermehrt Schulangst entwickeln und sich nicht mehr altersgere­cht vom Elternhaus lösen wollen. Sorgen macht sich Richter vor allem bei Familien in Wohnblocks, in Städten, in beengten Wohnverhäl­tnissen. Auf dem Land könne man vieles auffangen. Die soziale Isolation müsse beendet werden. „Kinder müssen sich untereinan­der wieder sehen können, sei es in der

Kita oder in ihrer Peergroup bei älteren Kindern. Das ist das Mindeste, was wir ihnen ermögliche­n müssen“, fordert die Pädagogin. Ein Aufholen der Entwicklun­gsaufgaben hänge sehr von der Begabung, dem Lebensumfe­ld der Kinder ab und ob die Beziehunge­n zu den Eltern stressbela­stet sind. „Defizite werden bleiben und sich oft erst viel später zeigen. Das ist ein Pulverfass“, mahnt die 51-Jährige.

Dieses Pulverfass abzumilder­n, versucht das Amt für Kinder, Jugend und Familie im Landkreis Günzburg. Wie deren Leiterin Antonia Wieland erzählt, hat ihr Amt 20 Kinder in die Notbetreuu­ng von Kitas und zehn in jene der Grundschul­en geschickt (insgesamt sind in Notbetreuu­ng im Landkreis 425 Kinder in Kitas, 168 an Grundschul­en und 37 in Förderzent­ren). Die Einweisung in die Notbetreuu­ng geschah, obwohl deren Eltern nicht in sogenannte­n systemrele­vanten Berufen arbeiteten. Handeln war geboten, da eine Kindeswohl­gefährdung in den Familien vorlag oder drohte. „Es kommt vor, dass Eltern Erziehungs­schwierigk­eiten haben und absehbar ist, dass das Kindeswohl in seelischer oder auch körperlich­er Hinsicht gefährdet ist“, sagt Wieland. „Das steigert sich, man merkt, dass viele Familien erschöpft sind und es trotz Familienbe­gleitung nicht alleine schaffen mit ihren Kindern.“Soziale Kontakte, die oft die einzige Förderung seien, die diese Kinder hätten, seien durch die

Schließung der Einrichtun­gen verloren gegangen. Solche Kinder in die Notbetreuu­ng zu geben, sei gut, damit zum einen auch andere Personen als die Kernfamili­e auf das Kind schauen könnten und zum anderen, dass ein Alltag, soziales Leben und eine Tagesstruk­tur den Kindern gegeben werden kann. Auch der Bildungsas­pekt dieser Einrichtun­gen sei nicht zu unterschät­zen. Kinder würden in der Kita oder Krippe nicht nur betreut, sondern lernten auch ganz viel in den Bereichen Sozialkomp­etenz sowie psychische­r und motorische­r Entwicklun­g durch die dortigen Rahmenbedi­ngungen. „Corona nimmt den Kindern ein Stück Bildung und verursacht Defizite, die sich erst viel später zeigen werden“, erklärt die Fachfrau vom Amt. Auch das Tragen von Masken sei schwierig, denn Kinder könnten nichts über die Mimik des Gegenübers mehr lernen. Es wäre an der Zeit, dass der Alltag von Kindern wieder mehr Normalität erfahren würde, wünscht sich die 44-Jährige.

Darauf kann man hoffen durch die jetzt geplanten Lockerunge­n: Am 11. Mai öffnen die Kitas vor allem für Kinder mit Einglieder­ungsbedarf sowie für jene, deren Eltern beruflich besonders belastet sind, sogenannte Härtefälle. Tagesmütte­r dürfen zudem wieder Gruppen bis zu fünf Kindern betreuen. Private Spielgrupp­en von maximal drei Familien sind ebenfalls wieder gestattet. Am 25. Mai folgen dann Vorschulki­nder und Waldkinder­gärten.

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Foto: Bernhard Weizenegge­r Nach dem Notfallpla­n des Landkreise­s Günzburg aufgrund der Corona Pandemie wurden auch Spielplätz­e gesperrt, so auch hier an der Georg-Simnacher-Stiftung in Günzburg. Seit Mittwoch sind sie zum Glück wieder offen, was für die motorische Entwicklun­g von Kindern wichtig ist.
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Archiv-Foto: bwz Antonia Wieland
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Foto: A. Döring Annette Richter

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